Naive Unkenntnis?

Das hilft weder dem Tanz noch seinem Journalismus

Stell Dir vor, es wird getanzt (oder jemand schreibt eine Pressemeldung_Zusatz Redaktion) – und niemand nimmt Notiz davon

Eine Pressemeldung und ihr Kommentar von Klaus Dilger

Vor wenigen Tagen erreichte uns und vermutlich alle die im Medien-Adressbuch des „nrw landesbüro tanz“ stehen, diese Meldung:

„Drei Tanzinstitutionen initiieren Kooperationsprojekt „Bewegungsmelder – Werkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“ zur Stärkung von Tanzkritik und Sichtbarkeit der Tanzszene in Nordrhein-Westfalen.

Im Projekt „Bewegungsmelder – Werkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“ schreiben Master-Studierende der Tanzwissenschaft aus Köln über NRW-Premieren von freien und städtischen Tanzkompanien, die bundesweit veröffentlicht werden. Ziel dieser Kooperation zwischen Hochschule, Onlinemedium und Vernetzungsstelle für zeitgenössischen Tanz ist es, eine Lücke in der überregionalen Kulturberichterstattung über die freie Tanzszene in NRW zu schließen.

Wie erreiche ich als Tanzkompanie mehr Sichtbarkeit? Und wie könnte die Tanzkritik gestärkt werden?

Ausgehend von diesen Fragen wird nun die Werkstatt ins Leben gerufen, die erst einmal auf zwei Jahre angelegt ist. Initiiert vom nrw landesbuero tanz als Informationszentrum und Ansprechpartner für die professionelle Tanzszene in Nordrhein-Westfalen, in Zusammenarbeit mit dem MA Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem bundesweiten Onlineportal tanznetz, das als einziges tagesaktuelles Medium im gesamten deutschsprachigen Raum den Bühnentanz bespricht.“

Sollte man also der Vorstellung widerstehen wollen, dass niemand Notiz nimmt (wenn eine solche Meldung lanciert wird), dann sollte dies nicht unkommentiert geschehen:

Auf die Frage, wie die Tanzkritik gestärkt werden könnte, gibt es eine klare Antwort: kritischer, professioneller Tanzjournalismus in Wort, Bild, Film und Ton muss unabhängig sein und diese Unabhängigkeit muss man sich leisten können und diejenigen, die ihn betreiben, auch als Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten, müssen hierfür fair und auskömmlich bezahlt werden. Hierfür bedarf es Medien und Plattformen, die dies können und die darüber hinaus die professionellen Kräfte im vergleichenden überregionalen, nationalen und internationalen Sehen von Tanzkunst fördern, indem sie zum Beispiel Reise- und Übernachtungskosten (mit)tragen. Genau an diesen Komponenten fehlt es einer qualifizierten Tanzkritik in Wort, Bild, Ton und Film. Letzteren kommt zunehmende Bedeutung bei, wenn sie ein eigenständiges kritisches Bild der Tanzkunst in die Öffentlichkeit bringen und nicht lediglich die  Bedürfnisse der „Blase“ der Machenden und Verwaltenden erreichen will. Fotografie, Film, Podcast (tbc) finden in dem „Projekt“ nicht einmal Erwähnung als entscheidende Komponenten.

HOBBY ODER BERUF?

Dem Tanzjournalismus fehlt es nicht deshalb an Nachwuchs, weil es niemanden gäbe, der diese Kunst journalistisch begleiten möchte, sondern weil ein potentiell qualifizierter Nachwuchs keine Perspektive darin erkennen kann, sich ohne die geforderten Strukturen und faire Bezahlung so arbeits- und bildungsintensiv den Inhalten, Technik und Ausdrucksformen dieser Kunst zu nähern, um sie mit grossem Können und Kompetenz in andere Denk- und Verstehformen zu übersetzen und ihr dennoch gerecht zu werden.

Überwiegend damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, unterscheidet Professionalismus von der Liebhaberei und dies gilt (mitunter) auch für die Tänzerinnen und Tänzer, Choreografinnen und Choreografen und aller nachfolgend mit Tanz Befassten und solche, die es werden wollen.

Liebhaber des Tanz(kunst)(be)schreibendens finden in tanznetz.de ihr (fast immer unbezahltes) Portal. „Tagesaktuell und sogar Deutschland weit“, wie es in der Pressemeldung heisst, mit einem „Alleinstellungsmerkmal“ versehen, das übersieht (liebe Verfasserinnen der Pressemeldung), dass online-Medien per se im „www“, also im „worldwideweb“ agieren, sofern die Qualität der Inhalte über Sprachgrenzen hinweg ein solches Interesse auszulösen vermögen. Und hier sind journalistische Inhalte, in Wort, Bild und Ton, gemeint aber auch die Qualität dessen, was sie besprechen. – Nicht alles ist für Jede und Jeden interessant und hat nicht selten nichts mit Kunst (über die sich bekanntlich streiten lässt) zu tun. Und doch: sie alle befüllen (auch) einen Markt mit ihren Produkten und Produktionen, die häufig nur wenige Male überhaupt an die Öffentlichkeit gelangen, während das Internet bekanntlich und leider nichts vergisst.

ETHOS und SORGFALTSPFLICHT

Tanzkritiken sind Meinungen und ihren Verfassern kommt keine imperiale „Daumen hoch oder runter“ Befugnis zu. Im professionellen Bereich sind ihre Verfasser einer besonderen Sorgfaltspflicht und einem beruflichen Ethos unterworfen, der sie (eigentlich) zur Faktizität, Fairness und Ausgewogenheit verpflichtet, ebenso die Medien und Plattformen, die als deren Träger fungieren. Tanzkritik ist immer auch eine „Übersetzung“, gerade deshalb kommt der unabhängigen Kritik in bewegtem und momentanem Bild und Ton eine so grosse Bedeutung zu, die viel mehr Kriterien der Qualitäten zu vermitteln vermag, als dies in Worten oft möglich ist. Sie vermitteln einen Teil der Faktizität, die ein ausgewogenes Mittel darstellen in der Information der Öffentlichkeit, die diese Produktionen zumeist finanziert hat, und dem Schutz aller beteiligten Künstlerinnen und Künstler, auch wenn diese oft gerne selbst das Bild bestimmen würden, das in die Öffentlichkeit gelangt. Hier entsteht oft eine Lücke zwischen künstlerischer Intention und der Realität der Präsentation, oder anders gefragt: wie gut ist die Intention realisiert worden?

Tanzkritik und Tanzkunst, oder besser Tanzkünstlerinnen und -künstler, erleben und durchleben genau in diesen Punkten Konflikte, aber sie sind darin weder Gegner, noch ist die Tanzkritik das Marketinginstrument derer Produkte, sondern mit oben genannten Grundsätzen Bindeglied und Übersetzer zu einer Öffentlichkeit die der Kunst oft mehr bedarf, als es ihr bewusst ist.

Wie erreiche ich als Tanzkompanie mehr Sichtbarkeit?

Fragen die Autorinnen der Pressemeldung und erwecken damit den Anschein, als versuchten sie zwei Enden zu verknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben, wenn es um kritischen und unabhängigen Tanzjournalismus geht. Dieser müsste auf die Frage antworten: Macht tolle Stücke und spielt sie öfter! Oder greift sie als Forderung an die öffentlichen Geldgeber, einschliesslich GEZ, auf: Finanziert endlich die Sichtbarkeit des Tanzes, gebt durch Förderung den Künstlerinnen und Künstlern den Besitz der Produktionsmittel zurück in Form von selbstbestimmten Theatern und Produktionsräumen UND fördert (vermehrt) den unabhängigen, kritischen, gemeinnützigen Tanz- und Kulturjournalismus und seine Plattformen und Medien, dies unterscheidet sich nämlich grundlegend von Produzentenblogs und denen der Produktionshäuser, auch wenn diese grundsätzlich begrüssenswert erscheinen, solange sie nicht vorgeben, die Aufgaben der unabhängigen und kritischen Tanzjournalistinnen und -journalisten einnehmen zu können.

Liebhaber des Tanz(kunst)(be)schreibendens und Liebhaber der Tanzausübung und -wissenschaften haben sich laut Ankündigung für zwei Jahre zusammengetan.

Ob aus dieser Liebhaberei eine Stärkung der Tanz Kunst entstehen kann? Wer wird das in naher Zukunft, in möglichen Zeiten der „Künstlichen Intelligenz Artikel“, noch wissen?