Locked in Panic / Fever Dreams – ein Drama in zwei Akten

Premiere in der Brotfabrik Bonn – eine Nachbetrachtung – Noch einmal am 18. und 19.September in der Bonner Brotfabrik!

von Hedieh Feshari, 13. Juli 2020

Es ist 20 Uhr. Wir schreiben den 3. Juli im Corona-Jahr 2020. Der Kurzfilm Locked in Panic feiert im Kulturzentrum der Brotfabrik (Bühne) Bonn Premiere. Nahtlos darauf folgt die Tanzaufführung Fever Dreams von 2019. Beides von und mit Tobias Weikamp und Angie Taylor. Das Ergebnis ist ein avantgardistischer Stilmix der Extraklasse.

Es ist ein Debüt in doppelter Hinsicht: Für die Darsteller Tobias Weikamp und Angie Taylor, die zum ersten Mal ihren Tanzfilm „Locked in Panic“ einem öffentlichen Publikum präsentieren. Für die Veranstaltungsstätte, weil es die gezeigte Synthese aus Kunstfilm und darauffolgender zeitgenössischer Tanzshow begleitet von hartem Live-Techno garantiert so noch nicht gegeben hat.

Von Kopf bis Fuß auf Panik eingestellt

Der Titel ist weniger kryptisch gewählt als zunächst angenommen. Er weist subtil darauf, was das Publikum in den kommenden 15 Minuten erwartet. „Locked In“ ist eine direkte Referenz auf den Zustand des Eingesperrt Seins, der Abschottung. Und er erinnert zeitgleich an „Lockdown“ – ein Begriff, der dem deutschen Sprachgebrauch in Mark und Bein übergegangen ist. Die Phrase weckt unweigerlich Assoziationen an soziale Isolation, körperlicher Distanz und Rückzug in die eigenen vier Wände.

Perpetuum Mobile im „Pink Panic Room”

Im Film sind „nur“ zwei davon sichtbar, im sanften Himbeerton getaucht. Ebenfalls auffällig: die ungewöhnliche Wahl der Ansicht und Beschaffenheit. Wir schauen in der Vogelperspektive in die Ecke eines Raums. Der künstlich wirkende 45 Grad Winkel lässt eine klaustrophobisch anmutende Atmosphäre entstehen. Der männliche Protagonist kauert darin in Embryonalstellung. Als Zuschauer fühlt man sich plötzlich selbst in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

Diese psychischen Vorgänge spiegeln die Bewegungen auf der Leinwand perfekt wider. Wir beobachten keinen konventionellen Paartanz. Die beiden Hauptfiguren begehen einen – im wahrsten Sinne des Wortes – akrobatischen Balanceakt. So suggeriert es zumindest die Optik. Man hat den Eindruck Darsteller und weibliches Pendant rotieren schwebend an den Wänden entlang und drehen sich dabei sowohl umeinander als auch um die eigene Achse. Die ständigen filmischen Überblendungen verstärken diesen Effekt und erregen beinahe so etwas wie Schwindel beim Zuschauer.

©Günter Krämmer

Rückzug und Distanz als Stresstest für Leib und Seele

In diesem „metaphorischen Panikraum“ agieren die Charaktere wie Gefangene ihrer selbst. Wie (Sinn-)Suchende lernen sie mühsam sich zu sich selbst und in Abgrenzung zum anderen neu zu positionieren. Wie verhält sich das Ich in einem geschützten Raum losgelöst von äußeren Widrigkeiten, losgelöst von Gefahren der Außenwelt und konventionellen Vorgaben wie Gesetzen und Regeln? Diesen Kernfragen versucht der Film auf den Grund zu gehen. Wer sind wir und wie verhalten wir uns, wenn wir nur noch auf uns selbst referieren können? Kann dadurch geistiges, emotionales Wachstum entstehen oder endet alles im Chaos einer Dystopie?

Immer wieder werden die dynamischen Bilder von statischen Sequenzen unterbrochen. Der Protagonist hockt in einem nicht näher definierten Raum. Gewissermaßen nackt und ausgeliefert. Ohne weiblichen Gegenpart oder einer anderen Form von Resonanz. Die Körperbewegungen sind krampfhaft, fast kränklich. Wie eine Katze, die verzweifelt versucht ein Fellknäuel hoch zu würgen. Dieses Bild erscheint vor dem geistigen Auge des Beobachters und lässt diesen nicht mehr los.

Das Leben: ein ewiger (Teufels-)Kreis

Ein harter Schnitt auf eine Sommerwiese: der Kamerawinkel ist schief. Die Asymmetrie gibt gelungen die resignative Atmosphäre wieder. Statt vermeintlicher Idylle und harmonischem Einklang von Menschen und Natur ist die Stimmung geprägt von Stress und Disharmonie. Atonale Elemente in der unterlegten Musik spielen ebenfalls gekonnt mit dieser Wirkung. Sie verfehlen ihr Ziel nicht. Außerhalb ihrer Sozial-, innerhalb ihrer Biosphäre, bilden Heldin und Held in diesem untypischen Pas de deux keine Einheit mit ihrer Umwelt. Eine emotionale Annäherung bleibt aus. Die erzwungene Nähe von zuvor ist einer gefühlsmäßigen Distanz gewichen. Der erhoffte Silberstreif am Horizont erschließt sich nicht. Weder im übertragenen noch im buchstäblichen Sinn. Geschickt wird an dieser Stelle mit der Erwartungshaltung des Publikums gebrochen. Adam und Eva finden nicht den Weg zurück ins Paradies.

Die eingesetzte Camcorder-Ästhetik unterstreicht den stark experimentellen Charakter der Inszenierung. Ob diese Wirkung wirklich bewusst hervorgerufen werden sollte, ist schwer zu sagen. Sie betont jedenfalls den diffusen Charakter einer ohnehin verwirrenden Ausgangssituation für Mensch (weiblich) und Mensch (männlich).

Fieberträume begleitet vom eigenen Soundtrack

Übergangs- und lückenlos an die Impressionen auf Zelluloid setzt die 35-minütige Tanzshow „Fever Dreams“ ein. Der Blick der Zuschauer wird auf die Bühne unter der Leinwand gelenkt. Unser Held von zuvor baumelt an einem Strick. Düstere, bedrückende Stimmung kommt auf. Fast Ohren betäubende Bässe setzen ein. Die Frau aus dem Film steht vom Publikum aus gesehen rechts von ihm, hinter einem DJ-Pult. Noch agiert sie relativ unauffällig im Hintergrund. Sie stimmt an zu einem Lied, das an Sirenengesänge erinnert. Ihre Stimme ähnelt dabei sehr dem tiefgründigem sentimentalen Sound Beth Gibbons – Frontfrau der britischen Trip Hop Band Portishead (https://www.universal-music.de/portishead). Die Inszenierung erhält dadurch einen elegischen, fast monumentalen Charakter. Man kann intuitiv spüren – die Theatralik ist gewollt.

Contemporary Dance trifft auf Live-Techno

Das Programmheft der Brotfabrik Bühne Bonn betitelt das Werk als „ein Tanzstück mit Live-Show“. Das trifft es nur zum Teil. Tatsächlich werden Augen und Ohren viel mehr geboten als bloß eine Verquickung dieser beiden Genres. Tanz trifft hier auf Schauspiel – Schauspiel fusioniert mit harter elektronischer Musik und bildet mit ihr eine neue Einheit. Das Theater bietet einem Live-DJ-Set eine Bühne. All dies Elemente zusammen machen den inter- wie „multidisziplinären“ Charakter von ‘Fever Dreams‘ aus. Zeitweise fühlt man sich als Zuschauer sogar ins Berghain, dem Berliner Techno-Tempel schlechthin, katapultiert. Eine wahre Achterbahnfahrt unterschiedlicher Eindrücke und verschiedener künstlerischen Stile breiten sich vor einem aus.

Alice im Wunderland für Erwachsene

In diese Traumwelt werden wir von den Darstellern Tobias Weikamp und Angie Taylor entführt. Als Inspiration diente ihnen der Kinderbuchklassiker „Alice im Wunderlandaus dem Jahr 1865. Was bis heute zur literarischen Gattung des Nonsens gezählt wird, meint nicht ‚Unsinn‘ in seiner alltäglich gebräuchlichen Bedeutung. Eine auf Regeln basierende Sinnverweigerung steht hier im Vordergrund. Und genau da setzt das zeitgenössische Tanzstück an. Der einstige Filmheld bewegt sich nicht leichtfüßig tänzelnd über – sein gewohntes Terrain – die Bühne. Die Ausführungen der Schritte wirken abhackt und doch seltsam fließend. Das ungewöhnliche Staccato der Choreographie lässt die Bewegungsabläufe fast willkürlich, beinah improvisiert wirken. Ob dieser Effekt zufällig oder bewusst hervorgerufen werden soll, bleibt bis zum Schluss offen. Zeitgenössischer Tanz ist hier so facettenreich wie selten gesehen. Geschickt vereinen sich darin klassische Elemente des Balletts mit moderneren Richtungen wie Hip Hop und darin vor allem Figuren aus dem Bereich Breakdance.

Gekonnt und konsequent bedient sich das Stück des Stilmittels der Groteske, in der eine verzerrte Realität voller Widersprüchlichkeiten bis hin zum Wahnsinn abgebildet wird.  Vertrautes trifft auf extrem drastische Weise auf Ungewohntes und bewirkt beim Publikum den Eindruck der Entfremdung. Diese bewirkt weder Abscheu noch Angst. Im Gegenteil! Als Zuschauer will man nur noch intensiver eintauchen in diese Welt, die bar jeder Norm und Regel zu funktionieren scheint.

Ein Mann, eine Frau und eine Mohrrübe

Etwa zur Mitte der Show wird der Zuschauerblick auf eine Hauptfigur der besonderen Art gelenkt. Der Held in der Geschichte bekommt eine Requisite in Form einer Karotte an die Hand. Das Verhältnis zwischen dem angedeuteten weißen Kaninchen und dem orangen Gemüse ist eine andere als im Kinderbuch. Die erotische Komponente ist nicht zu verkennen. Eben so wenig die spielerische Art wie das Wurzelgemüse zum Einsatz kommt. Richtig komödiantisch ist vor allem in der Szene, in der der Hauptdarsteller die Karotte mit seinen Zähnen bis auf ihren Strunk zerfrisst. Der Phallus – bis dahin Zeichen von Macht und Kontrolle – wird zerstört.

Die übriggebliebenen Stücke, die wie Sägespäne zu Boden fallen, werden in der nächsten Szene von der Heldin aufgeleckt bzw. gegessen. Wie ein Tier bewegt sie ihren Körper lasziv über den Boden und verleibt sich die Karottenreste ein. Die bisher nur angedeutete Erotik erreicht in dieser Szene ihren Höhepunkt. Es tut sich einem die Frage auf, ob das Stück nicht auch gut ohne sie ausgekommen wäre. Was der Urheber damit bezweckt, ist nicht ganz klar und läuft darum Gefahr, vom Zuschauer als reines Mittel zur Provokation wahrgenommen zu werden. 

Ein Kosmos in bester David-Lynch-Manier

Die getanzten Fieberträume folgen ihrer eigenen Logik und Struktur. Sie orientieren sich ganz im nach dem Kunstverständnis eines David Lynch (https://www.moviepilot.de/people/david-lynch), demzufolge Worte und Beschreibungen nur zu Fehlinterpretationen führen. „Lose your head!“ – lautet darum die einzige Devise, um ganz und gar dem absurden Universum einer „Alice im Wunderland“ beizutreten. In dieser Adaption bleibt der Kopf des Helden zum Glück am Ende verschont. Erfolgreich gelingt es ihm diesen aus der Schlinge zu befreien. Das Drama endet, im Vergleich zu seinen klassischen Vorbildern, nicht mit dem Tod. Vielleicht ist das Paradies für den Menschen doch nicht ganz verloren.