photos: klaus dilger

„Tanz aus der Reihe – Festival Radikal“

steht über den Aufführungen im Kunsthaus Rhenania in den nächsten Tagen, die bei aller Unterschiedlichkeit ihre Wurzeln ins Extreme bohren, wie der künstlerische Leiter André Jolles bei der Eröffnung gestern erklärte.

Wenn diese Frau ihre Augen aufreißt, steht sie im Freien. Alles andere verschwindet. Da ist noch ihr Mund, rot, beweglich, von Schnute über Grinsen bis zum großen O, die weißen Zähne, hinter denen es knurrt und kiekst, die zotteligen Haare. Alles andere ist eigentlich egal. Tegest Pecht-Guido war jetzt im Kunsthaus Rhenania als eine außerordentliche Performerin zu bestaunen. Diese halbstündige Schau des „Girl 29“ hat Kristel van Issum im Frühjahr 2012 choreografiert, mit Zutun der Tänzerin, die seit einer Weile schon Mitglied in van Issums T.r.a.s.h.-Theater ist. Zusammen mit dem anderen Halbstünder, dem Mann-Frau-Duett „T.† BERNADETTE“ von 2009, lieferten die Künstler aus dem niederländischen Tilburg das Festival-Eröffnungsprogramm. Mit ihrer Ruppigkeit passten sie prima zum Radikal-Motto.

Obwohl: Radikal könnten ja auch reines Nichtstun auf der Bühne sein oder ununterbrochen liebliche Bewegung. Aber das gibt es wohl eher nicht im Repertoire des T.r.a.s.h.-Theaters, das Kristel van Issum 2001 aus der alternativen Rockszene in Tilburg heraus gemeinsam mit dem Musiker Arthur van der Kuip und Paul van Weert (Bühnenbild) als Kollektiv gegründet hat. Sie touren, wie das für niederländische Gruppen üblich ist, viel im eigenen Lande, aber auch mal über die Grenzen nach Frankreich, Italien, und ab und zu hinüber nach Deutschland. Weil sie einen Gastspielort in Köln suchten, nahm André Jolles von 687performance sie in sein kleines Festivalprogramm auf. Aus dem Kontakt habe sich jetzt schon die Idee einer Zusammenarbeit in Tilburg ergeben, berichtet er in der Pause.

Hundert Grad

„T+ Bernadette“ stellt eine Waschmaschine auf die Bühne zwischen den Betonsäulen, ohne Anschlüsse, stumm, ein totes Auge. Sinnlos, bis auf die Andeutung eines häuslichen Ortes, Küche, Keller. Was die beiden Tänzer dort machen, ist der Brutalität einer rotierenden Wäschetrommel, der das Material im engsten Raum ausgeliefert ist, nicht ganz unähnlich. Was aber lässt dieses Paar  immer wieder aneinander und auseinander geraten? Sie, klein, barfuß, im mädchenhaft pinken Body, zeigt erst nur Rücken, macht zu große Schritte, biegt sich hintenüber, stolziert auf halber Spitze, hält die Hände in die Höhe, zerrt sich lang und spitz, die Knie geben häufig nach, einwärts, der Kopf hängt. Sie trappelt, springt, rennt, stürzt zu Boden. Diese rothaarige Kindfrau, Lucie Petrušová, scheint mit sich selbst nicht im Reinen zu sein, oder umgekehrt: Sie ist es, indem sie wie blind und ohne Benimmprogramm ihren Körper in die Welt haut. Dazu kommt dann noch der Mann, und auch das Publikum starrt sie irgendwann mit glühendem Blick an. Aber das ändert nichts, höchstens für Sekunden.

Für Joss Carter ist sie eher ein Ding, das er greift, ohne hinzuschauen, er rammt sie an seine breite tätowierte Brust, trägt sie wie ein Brett, schüttelt sie. Oder er wütet nur so für sich und platzt fast vor Anspannung. Plötzlich gelöst, macht er die Arme auf, weich, großzügig, liebend, fragender Blick zum Himmel, ein andermal königlich selbstsichere Geste. Er fasst sie kurz auch mal still an der Hand. Theatralisch verkündet er, sie sei aus irgendwelchen Tiefen gekommen. Es geht wohl um die kleine Meerjungfrau. Ein Wesen an einem falschen Ort. Er brüllt auf Englisch etwas von „Gott“ und „Hölle“, „Du brauchst diese ganze Schuld nicht mit dir herumzutragen!“. Sie ruft: „Ich brauche zwei Beine!“, klemmt an ihm und beißt ihn in den Ellbogen. Manchmal reißen sie gleichzeitig die Knie in die Luft, wie zum Spring ins Wasser. Heben die Arme wie im Flug. Brechen ab. Ein Abbruch am andern. Splitter von Glückseligkeit im Trubel von Pein und Wut. Dazu spielt Jacqueline Hamelink auf ihrem verkabelten Cello mal lange Töne, tief oder sirenenhaft, mal macht sie munteres Hüpfen oder rasche dunkle Wellen. Begreift man das Fetzenhafte der Inszenierung, diese wie wahnsinnig wechselnden Gemütszustände der Figuren als bewusstes Vermeiden von Erzähl- und Einfühllogik, ist das ein toller Wurf.

„Der Schmerz ist vorbei“

Wie auch „Girl 29“, das nur eine Tänzerin auf die Bühne ballert, aber ihr einen Musiker beigesellt, Georgi Sztojanov, der sehr sichtbar ist, indem er steht, ordentlich, streng. Er macht Durchsagen ins Mikrophon, für Reisende: ein Flughafen. „Boarding“, „Passport“, „Gate fourtythree“, Willkommen an Bord, die Notausgänge. Die Bühne ist ein verlorener Winkel, Laub liegt herum, eine harte Pritsche, ein Stuhl, hinten halbhohe Zäune. Die Frau hier, das namenlose Girl 29, hat ihren Notausgang wohl schon benutzt, der sie dann ins Niemandsland geführt hat. Sie poltert. Sie haut alles aus sich heraus. Knallt Füße, Hände oder sich in Gänze auf den Boden und auf die Schlafbank, boxt mit Fäusten. Zwischendurch zittert sie heftig. Oder sie richtet sich mit sexy Posen ans Publikum. Po raus, Blick über die Schulter. Kichert. Grollt. Lockt. Schluchzt. Tobt. Wechselt Kleidchen und Perücken. Während der Sänger flüstert, auf ungarisch rezitiert, mit balkanischen Melismen und einem Klagelied den Raum verschönert, drückt sie Sätze aus sich heraus, auf Deutsch, mit verstellten Stimmen, es geht um Erinnerung, die Kindheit. „Ich durfte nicht nach draußen. Ich war wie eine Fremde in meinem Land“. Ein Abzählreim, wie lustig. Dann: „Heute ist ein besonderer Tag“, „Es könnte sein, dass sich einer schämen wird“. Sie brüllt: „Ich!“, kriecht, hält sich die Ohren zu. „Why me?“ Sie wird ständig bedrängt und drängt sich selbst dort heraus, greift an, im Nachhinein. Im Jetzt. Deshalb wird das hier eben nicht zur bedauerlichen Opfergeschichte.  „Girl 29“ versöhnt auch nicht. Bruchlandung. Applaus.

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TRASH GIRL 29