GALA ZUR VERLEIHUNG DEUTSCHER TANZPREIS 2020

Ein begeisternder Abend im Aalto Theater in Essen und in einer hochwertigen Direktübertragung im Netz

Am Samstag wurde im Aalto Theater in Essen der Deutsche Tanzpreis 2020 an den Düsseldorfer Choreografen Raimund Hoghe überreicht. Die Verleihung fand im Rahmen einer, in jeder Beziehung, hochkarätigen Tanzgala statt, die mit ausserordentlich vielseitigen Beiträgen wohl auch diejenigen überzeugen konnte, die dieser Veranstaltung in der Vergangenheit eher kritisch gegenüber standen. Weil eben nicht nach dem Motto, „wer Vieles bietet, wird Manchem etwas bringen“ gehandelt wurde, sondern weil es dem Dachverband Tanz Deutschland, der seit 2018 die Trägerschaft und Ausrichtung des Deutschen Tanzpreises übernommen hat, gelang, eine Ahnung dessen zu vermitteln, wie vielschichtig Tanz in unsere Gesellschaften, unsere Kultur, unsere Philosophie, unser Leben hineinwirken kann. Und auch, in welch beeindruckender Weise die Akteure ihre Gesten, Bewegungen, Bilder, Worte, Reflexionen, Räume und Dimensionen, die sie auf ganz unterschiedliche Art zu erschaffen vermögen, durch und mit ihrem Körper „in den Kampf zu werfen“ bereit sind, wie es Pier Paolo Passolini einmal als Inspiration, nicht zuletzt für Raimund Hoghe, formulierte, und welch politische Dimension der Tanz dadurch erfahren kann, nicht nur in Zeiten der Corona-Pandemie. Diese sorgte letztlich auch dafür, dass der Dachverband Tanz Deutschland der Verleihung eine zusätzliche Dimension verlieh, indem er in einer, und dies sei vorweg genommen, ganz exzellenten Liveübertragung mit vier Kameras, auch die Tanzbegeisterten an den Bildschirmen mit einbezog und zu begeistern wusste und den Begriff „Live-Stream“, der in den vergangenen Monaten für Alles allgegenwärtig war, das irgend etwas ins Internet katapultierte, auf eine neue, höchstprofessionelle und mehr noch: Tanz erlebbar machende Stufe stellte.

Denn nur einen Tag vor der, mit 420 verkauften Karten (Corona bedingt) ausverkauften Gala, mussten die Veranstalter ganz kurzfristig auf ein maximales Kontingent von 200 Besucherinnen umstellen und Zuschauerzahlen reduzieren.

Gala Deutscher Tanzpreis 2020@Ursula Kaufmann_TWO AND ONLY_Wubkje Kuindersma

Gala Deutscher Tanzpreis 2020@Ursula Kaufmann_TWO AND ONLY_Wubkje Kuindersma

Ein Höhepunkt gleich zu Beginn

Der Beginn einer Gala-Vorstellung ist für gewöhnlich der undankbarste Platz, doch hier wurde er bereits zu einem der Höhepunkte des Abends: Wubkje Kuindersma choreografierte auf die Musik von Michael Benjamin ein wunderbar leichtes und tänzerisches Duo mit dem Titel „ Two and only“ für die beiden Ausnahmetänzer vom Het Nationale Ballet in Amsterdam, Timothy van Poucke, der noch am Beginn einer vielversprechenden Karriere steht und Marijn Rademaker, schon seit vielen Jahren einer der besten Tänzer der Welt. Fliessende Bewegungen und Freude am Tanz in jeder Sekunde erlebbar – Das Publikum dankte und war augenblicklich auf  „Betriebstemperatur“.

Michael Freundt, ausserordentlich erfolgreicher Geschäftsführer des Dachverbandes in Sachen Tanz, Lobbyist und Netzwerker im besten Sinne, nicht nur für die Kunstform, sondern umfassend für alle Strukturen die helfen, die gesellschaftliche und politische Wirkkraft des Tanzes endlich entfalten zu können, gab in seiner Begrüssungsrede gleichzeitig Dank und zukünftige Aufgaben an die richtigen Empfänger und in einer Tonlage weiter, die Kompetenz und Anliegen dieser Veranstaltung definierte.

Er reichte die Moderation weiter an Siham El-Maimouni, bekannt aus „WestArt“ des Fernsehsenders WDR, als versierte Kunst- und Kultur-Moderatorin. Sie führte ebenso eloquent wie wissensreich durch den Abend, anwesende Gäste ebenso wie die Menschen am Bildschirm, Preisträger*innen und Geehrte, Laudator*innen und Künstler*innen stets  einfühlsam verbindend. Das war absolut wohltuend und im schönen Kontrast zu oft gehörten Dauerlob-Worthülsen.

Dort wo dann doch mal zu viel gepriesen wurde, stellten die Leistungen der Auftretenden dann schnell wieder das Gleichgewicht her, was aber nur zwei Mal an diesem Abend anzumerken war.

Dieser Abend war grossartig organisiert und zusammengestellt von Tobias Ehinger, der mittlerweile nicht mehr „nur“ die Geschäfte des Dortmunder Balletts leitet, sondern für das gesamte Theater verantwortlich zeichnet, in schöner Zusammenarbeit mit Nina Hümpel, die nicht nur das zweijährig stattfindende Festival DANCE in München leitet. Beide selbst im Rahmen des Deutschen Tanzpreises im Jahr 2013 bzw. 2014 ausgezeichnet. Hoch professionell und mit grosser Gastfreundschaft unterstützt von den Verantwortlichen des (wirklich schönen) Essener Aalto Theaters.

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann

Alle Geehrten mit eigenen Bühnenbeiträgen

Raphael Hillebrand, Antje Pfundtner und Friedemann Vogel wurden in diesem Jahr, in Ergänzung zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises, geehrt und sie alle standen auch auf dieser Bühne mit Beiträgen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Es ist legitim, wenn Mancher und Manchem die Formulierung „für herausragende Leistungen“ missfällt, verdient und sinnvoll waren alle Ehrungen allemal, denn sie alle werfen, auf vollkommen unterschiedliche Art und Weise, ihre tanzenden Körper „in den Kampf“, der nicht geprägt ist von Bitterkeit, sondern Freude und Hoffnung. Exemplarisch. (Vielleicht wäre diese Bezeichnung sogar noch mehr im Sinne von Raphael Hillebrand?) Vier Auszeichnung, vier Körper, Tanz, Exemplarisch.

RAPHAEL HILLEBRAND

Hillebrand, geehrt für „Herausragende künstlerische Entwicklungen im Tanz“, eröffnete den Reigen der Performances der Geehrten mit einem Duett zwischen ihm und einem Cello, das eigentlich ein Trio war, mit einer ausgeklügelten Videoprojektion in zeitverzögerter Tunnelung seiner Bühnenaktionen, oder ist die Performance bei Hillebrand, der sich selbst auch als Aktivisten begreift, nicht doch eher als ein Quartett aus Tanz, Musik, Projektion und Wort zu sehen. „Auf meinen Schultern“ ist nicht nur geistiges Vermächtnis an seine Tochter, die er in seiner Performance direkt anspricht, es ist die Botschaft (nicht nur) an eine nachfolgende Generation: „Umbuntu“.

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Hillebrand

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Hillebrand

UMBUNTU

Was „Umbuntu“ meint, wird Hillebrand in einem Einspieler erklären, der die Tags zuvor statt gefundenen Ehrungen, mit jeweiliger Laudatio, auf die Bühne des Aalto Theaters projiziert? „Ich bin durch Dich und wir alle werden erst zu Personen durch andere Menschen,“ sagt Raphael Hillebrand, und liefert damit auch das Verständnis für einen gefühlten „roten Faden“ des Gala-Abends:

„Umbuntu“ stammt aus der Sprache und Philosophie der Zulu und umschreibt, dass eine Person erst durch andere Menschen zu der Person wird, die er ist. „Umbuntu“ bestätigt das Menschsein eines Individuums durch die Anerkennung des Anderen in seiner Einzigartigkeit und Differenz. „Menschlichkeit“ (humanity) ist eine Eigenschaft, die die Menschen sich gegenseitig schulden. Damit schaffen die Menschen sich gegenseitig und sie müssen diese Schöpfung des Andersseins aufrechterhalten. Wenn sie nach diesem Verständnis zueinander gehören, nehmen sie gegenseitig an ihren Kreationen teil.

Hillebrands Hinweis, dass er nicht nur der erste Vertreter des Urbanen Tanzes sei, der eine solche Ehrung erfahren darf, sondern auch auch der erste Nichtweisse Künstler im Rahmen des Deutschen Tanzpreises, machte nachdenklich und unterstrich gleichzeitig den Aufbruch, den diese Veranstaltung in 2020 erfahren hatte.

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Antje-Pfundtne

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Antje-Pfundtne

ANTJE PFUNDTNER

Antje Pfundtner, ebenfalls geehrt für „Herausragende künstlerische Entwicklungen im Tanz“, sampelt und nennt Teile aus ihren früheren Produktionen „Für diesen Anlass“. Auch sie nutzt in ihrer Soloperformance ihren Körper, seine Möglichkeiten und Begrenzungen im Wechselspiel mit mit phantasievollen, überraschenden, intelligenten Wortkaskaden, die sie so grossartig und klug gestaltet, dass den Zuschauer*innen eine Unendlichkeit an nicht erwarteten aber stets logisch anmutenden Möglichkeiten suggeriert wird. Eine Erwartung, für die sie ihren „Körper in den Kampf wirft“, denn ohne die Magie der Dynamik, Bewegung, Geste, Tanz?, würde eine dergestaltige Faszination für Pfundtners phantasievolle „Lebensentwürfe“ kaum entstehen können. Indem sie die Begrenzungen ihrer tänzerischen Möglichkeiten offenbart und diesem die offensichtlich unbegrenzte Phantasie des Geistes und der Emotionen gegenüber stellt, erinnert sie an Saint-Excupéry’s „Der Kleine Prinz“, dem sein Körper zur Last wird, als er sich auf die Reise in sein Universum machen will. Ein Entwurf zur Gravität der in diesem Wechselspiel mehr als spannend ist.

FRIEDEMANN VOGEL

Ganz anders Friedemann Vogel, der Dritte der am Vorabend der Gala Geehrten: Hier stehen Körper und dessen Fähigkeiten im Mittelpunkt, weshalb er als „herausragender Interpret 2020“ geehrt und ausgezeichnet wurde, nachdem er zuvor bereits drei Mal von Tanzjournalist*innen zum „Tänzer des Jahres“ gekürt wurde.  Sein künstlerischer, getanzter Beitrag ist eine seiner Paraderollen für und mit dem Stuttgarter Ballett: Maurice Béjart’s Choreografie zu Ravels „Bolero“, der das Begehren des Körpers, zumeist getanzt von einem Mann auf einer roten Plattform mit 4 Metern im Durchmesser, bis zum ekstatischen Höhepunkt (von Musik und Tanz) thematisiert. Friedemann Vogel und (Corona bedingt) acht, anstatt vierundzwanzig, Tänzern des Stuttgarter Balletts, tanzen auf Weltklasse Niveau und begeistern deshalb mit Friedemann Vogels Verkörperung des Ideals des (klassischen) Tanzes auch ein eher zeitgenössisch ausgerichtetes Publikum.

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Friedemann-Vogel

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Friedemann-Vogel

WELTKLASSE IN WORT UND TANZ

Ebenfalls auf höchstem Niveau tanzend, Lucia Lacarra und Matthew Golding in Edwaard Liangs  „Finding Light“ zur Musik von Antonio Vivaldi aus dem „Finlandia-Abend“ des Dortmunder Balletts. Auch sie wussten das Publikum zu begeistern, ehe sich die Laudatorin Dr. Katja Schneider diesem enorm hohen Qualitätsstand mit ihren Worten nahtlos anzuschliessen vermochte. Sie vermittelte mit ihren präzisen Analysen und Detailreichtum im Herstellen der gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Zusammenhänge im und zum Werk von Raimund Hoghe einen Eindruck davon, welche Rolle Tanzjournalismus und Tanzwissenschaften spielen könn(t)en, wenn sie denn auf solch hohem Niveau betrieben werden oder besser würden.

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Raimund-Hoghe

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Raimund-Hoghe

MENSCHEN GUCKEN…

Sichtlich gerührt antwortete und dankte Hoghe auf Schneiders Laudatio von dem sich der Kern in der

Jurybegründung DEUTSCHER TANZPREIS 2020 wiederfindet:

Raimund Hoghe erhält den DEUTSCHEN TANZPREIS 2020

Raimund Hoghe gehört seit Jahren international zu den wichtigsten ChoreographInnen, die sowohl ästhetisch als auch politisch Maßstäbe setzen. Einer der treibenden Impulse seiner Theaterarbeit fasst der Choreograph und Tänzer Hoghe selbst in einem Satz von Pier Paolo Pasolini zusammen: »Den Körper in den Kampf werfen“. In seinem Fall ein Körper, der nicht der Norm oder gängigen Schönheitsidealen entspricht. Seine Stücke reagieren auf die politischen Zeitläufte, ohne dabei jemals die eigene künstlerische Handschrift aus den Augen zu verlieren: Sie widmen sich brisanten gesellschaftspolitischen Themen wie der deutschen Geschichte, vielfältigen Formen der Ausgrenzung oder der aktuellen politischen Lage, etwa Europas Umgang Europas mit Geflüchteten. Seine Werke teilen ein Archiv gemeinsamer gesellschaftlicher Erfahrungen, dem sich die eigene Geschichte der ZuschauerInnen anschließen kann. Hoghes künstlerische Arbeit beharrt auf und praktiziert seit Jahren Inklusion und Diversität, ohne unter dieser Flagge zu segeln. Für seine Kreationen, in denen auf vielfältige Weise getanzt und gesprochen, Musik gehört und agiert wird, arbeitet Hoghe mit exzeptionellen TanzkünstlerInnen zusammen. Seit den 1990er Jahren prägt er eine ganz eigene Ästhetik und verfolgt sie seither mit einzigartiger Intensität und Konsequenz. Seine hohe Kunst der Achtsamkeit, der gesteigerten Wahrnehmung ermöglicht einen neuen Blick auf den Tanz und ist nicht zuletzt ein unablässiges Experiment mit Schönheit. Mit dem Tanzpreis 2020 wird ein Lebenswerk eines Künstlers geehrt, der nie versucht hat, das System zu bedienen, sondern es mit ungewöhnlichem Mut und persönlichem Einsatz zu verändern.

Mit Raimund Hoghe wurde, nach dessen eigener Aussage, erstmals ein Vertreter der Freien Tanzszene mit dieser höchsten Auszeichnung geehrt.

Sein „Canzone per Ornella“ in der Besetzung: Ornella Balestra, Raimund Hoghe, Luca Giacomo Schulte, bildete den Abschluss dieser denkwürdigen Gala, die Corona bedingt ohne einen Schlussapplaus auskommen musste, der alle Teilnehmer noch einmal auf der Bühne zusammengebracht hätte, um dem Publikum die Gelegenheit zu geben, sich für einen ausserordentlich hochwertigen aber auch Identität stiftenden Abend zu bedanken, der fortan wohl als Maßstab für derlei Veranstaltungen gelten wird.

Viel Applaus für Raimund Hoghe, Ornella Balesta, Luca Giacomo Schulte, die Veranstalter, Organisatoren und alle Beteiligten, die unsichtbar bleiben, aber diesen Abend zum leuchten brachten.

Gala-Deutscher-Tanzpreis-2020@Ursula-Kaufmann_Raimund-Hoghe

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