Immer noch da. Immer wieder in Bewegung

Zur Tanzreihe „MOVE!“ in der Fabrik Heeder

Text Melanie Suchy

Festschrift zur 20.Ausgabe von „move!“ (mit freundlicher Genehmigung des Kulturbüro Krefeld

Wenn eine Kulturveranstaltung über siebenundzwanzig Jahre zwanzigmal durchgeführt werden konnte, dann hat sie sich bewegt, hat sich verändert. Denn die Kunst und die Menschen, die sie machen und die sie anschauen, haben sich auch verändert; da wäre ein Verharren im einmal Bewährten eine vertane Chance. Wobei dieses Bewährte hier immer schon eher den Eindruck einer Suchbewegung machte als den einer Feststellung der Art „so ist das“. Es ist also das sich Bewährende, mit seiner Geste der Einladung. Schaut, macht euch ein Bild! Erlebt was!

Das Festival trägt seit Beginn eine Aufforderung wie einen freundlichen Anschubser als Namen „MOVE!“ – Beweg dich, bewegt euch! So heißt es immer noch.

Es hat nicht die terminliche Dichte und das nervös Spektakuläre normaler Festivals. Über mehrere Wochen fängt dieses Stretch-Festival mit seinen Programmen und immer wieder neu hinzuerfundenen Programmteilen oder Formaten wie mit einem Schmetterlingsnetz etwas ein, das es liebevoll als mal kleinere, mal größere Sammlung präsentiert: eine höchst lebendige und farbenfrohe Beute, die anschließend weiterfliegt. Der Eindruck des Nicht- Beharrens liegt auch an ihr, dem Tanz. Ist dieser modern oder zeitgenössisch?

Die „Krefelder Tage für modernen Tanz“ tragen seit 2008 einen zweiten Schriftzug auf ihren Flyern: „Krefeld TANZT zeitgenössisch“. Eine Aussage. So heißt eine Vernetzungsinitiative innerhalb der Stadt, die auch das Tanzen im Amateurbereich fördert. Dies ist ein schöner Hinweis, dass die Definitionen hier keine große Rolle spielen. Man könnte sich am Unterscheiden der beiden Begriffe abarbeiten, historisch oder transatlantisch – aus der Richtung USA – argumentieren, Missverständnisse oder Vorurteile benennen. Was brächte das? Das Festival richtet sich an sein Publikum.

Dieses weiß: Kein Gesellschaftstanz, keine Folklore, kein sogenanntes klassisches Ballett kommt hier auf die Bühne. Sondern Tanz der heutigen Zeit, künstlerischer Tanz, Bühnentanz. Werke, die gerade erst choreographiert wurden oder vor wenigen Jahren. Dass sie sich auch mal mehr, mal weniger deutlich oder bewusst mit jeweils aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen, mit dem Erleben und Leben auseinandersetzen, zeichnet sie aus. Die Körper auf der Bühne sind ja nie von gestern.

Was es bedeutet, sich Blicken auszusetzen und Positionen im Raum einzunehmen als Bewegte und Bewegende, damit kennen sich die Tanzschaffenden aus. Sie gehen solchen Fragen immer wieder nach in ihrer Kunst. Sie werden nie altmodisch. Auf dieser Aktualität der jeweils zeitgenössischen Werke beharrt das Festival. Das macht es aus, dies ist eines seiner Kennzeichen. Was altert und altern darf, sind die Choreographinnen und Choreographen, die solche Werke erschaffen. Dies ist eine weitere Besonderheit des Festivals: dass es mit diesen kreativen Menschen Wegstrecken gemeinsam geht. Ob man das Treue nennt – künstlerische Qualität vorausgesetzt – oder einfach Neugier auf das, was sie Neues schaffen, erfinden, entdecken, ist egal. Die wiederholten Einladungen, in einigen Fällen im dichten, jährlichen Takt, in anderen mit ein paar Jahren Abstand, bauen Kontinuitäten auf, also doch etwas zum Festhalten – in einem Genre, in dem es so wenig Festes gibt. Auch fürs Publikum sind Wiederbegegnungen solcher Art wie eine Handreichung, eine Orientierung, ein Gewinn. Für die Künstlerinnen und Künstler eine Anerkennung.

19.-Krefelder-Tage-des-Zeitgenössischen-Tanzes-MOVE

19.-Krefelder-Tage-des-Zeitgenössischen-Tanzes-MOVE

Zur Erinnerung

Die immense Bedeutung von „MOVE!“, den Wert der Gastspielauftritte gerade dort, in Krefeld, in der Fabrik Heeder – oder auch open-air – haben mir viele Choreographinnen und Choreographen in Gesprächen bestätigt. Sie sind es, die diese Kunst herstellen, verkörpern, gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern und allen anderen jeweils mit ihnen arbeitenden Menschen. Sie sind es, die in erster Linie das verantworten, was das Publikum zu sehen bekommt. Ich habe sie befragt, um eine Art Innenperspektive zu erfahren von denjenigen, die mindestens zweimal an „MOVE!“ beteiligt waren. Meine eigene Sicht als Journalistin ist ja eher eine von draußen, dem Publikum ähnlich. 2005 besuchte ich erstmals eine „MOVE!“-Vorstellung. Anderenorts schaue ich seit etwa 2001 viele Tanzstücke an, in Nordrhein- Westfalen und bundesweit. Zwischen diesen beiden Positionen, innen und außen, steht die Kuration. Sie vermittelt im wahrsten Sinne des Wortes, indem sie auswählt, das Programm zusammenstellt, also die Gastspiele einlädt. Dies taten Jürgen Sauerland- Freer und Dorothee Monderkamp vom Kulturbüro Krefeld fast drei Jahrzehnte gemeinsam. Immer wieder. Nachdem Sauerland-Freer Anfang 2019 feierlich in den Ruhestand verabschiedet worden war, trat Dr. Gabriele König an seine Stelle als Leiterin des Kulturbüros und Kulturbeauftragte der Stadt Krefeld. Mit der stellvertretenden Kulturbüro-Leiterin Dorothee Monderkamp, zuständig für die 1989 eröffnete Kulturstätte Fabrik Heeder, war „MOVE!“ von Beginn an Teamarbeit. Bei Gruppen der Freien Szene wird das Teilen von Leitungsverantwortung schon länger praktiziert, unter meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern waren immerhin vier solcher Paare. Zudem sind ja gerade die darstellenden oder performativen Künste Teamarbeiten. Niemand choreographiert, ohne mit Personen zu interagieren, die auf Musik, Licht und Bühnengestaltung spezialisiert sind, und natürlich mit Tänzerinnen und Tänzern, falls man sich nicht gerade selbst in ein Solo choreographiert. Insofern passt die doppelte Leitung bei „MOVE!“ zu der Kunst und ist vorbildlich. Nicht aus Prinzip, sondern weil sie so gut funktioniert hat. Immer wieder. Immer noch da. Dieses Lob wurde in jedem meiner 21 geführten Gespräche zum Ausdruck gebracht und zwar ohne, dass explizit danach gefragt wurde.

Willkommensein

Meine Eingangsfrage lautete: Was ist oder war das Besondere an „MOVE!“ und am Auftreten in der Fabrik Heeder? Wie aus der berühmten Pistole geschossen kam jedes Mal: die Freundlichkeit, die Gastlichkeit, Menschlichkeit, Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft. Damit waren Jürgen Sauerland-Freer und Dorothee Monderkamp gemeint sowie das technische Team des Hauses und dessen Leiter Reinhard Lange. „Familiär“ nannten mehrere die für sie so offensichtlich einverständliche Stimmung. Solch eine Gastfreundschaft, Verlässlichkeit in der Vorbereitung, die langen Gespräche, der fachliche Austausch, also die taktvoll freundliche Zugewandtheit, die Dorothee Monderkamp und die anderen „MOVE!“-Verantwortlichen auszeichnet in den Worten der Choreographen und Choreographinnen, sei nicht selbstverständlich. Auch nicht, dass sie nie von oben herab „als Nummer“ oder „nebenher“ behandelt wurden, was ihnen durchaus mit Leitungspersonen anderer Festivals oder Theaterhäuser passiert sei.

Es fällt auf, wie positiv die Befragten in mehrerlei Hinsicht von „MOVE!“ sprechen. Warum ist diese Freundlichkeit wichtig? „Wir Künstler sind empfindliche Seelen“, sagt die Kölner Choreographin Suna Göncü. Für Avi Kaiser, Duisburg, ist „MOVE!“ und sein Team gerade in diesen Zeiten „ein Beispiel dafür, wie man mit Menschen anders umgehen kann in dieser Welt“, gut, besser. Er erwähnt sogar „Pünktlichkeit“. Dass Verträge und Gelder wie vereinbart kommen, auch das sei eine Art des Respekts.

Tanz in Krefeld_Sabine_Seume_Ensemble_©Ursula Kaufmann

Tanz in Krefeld_Sabine_Seume_Ensemble_©Ursula Kaufmann

Von Anfängen

Manchmal vermischten sich bei den Gesprächen die Erinnerungen an „MOVE!“ mit denen an andere Auftritte in der Fabrik Heeder. Einige der mehrmals eingeladenen Gruppen aus Nordrhein-Westfalen traten tatsächlich nur bei „MOVE!“ auf; etliche auch bei anderen Gelegenheiten, Festivals, Reihen mit zeitgenössischem Tanz. Für „MOVE!“ war von Anfang an ein Vorteil, dass weder für die Fabrik noch für das Publikum solche Gastspiele die totale Ausnahme waren im kulturellen Jahresablauf.

Als das Festival 1994 begann, war die Freie Theater- und Tanzszene aus den Kinderschuhen heraus und wuchs, aber jung war sie noch. Den Weg durch die ersten Jahre des Tanzes in der Fabrik Heeder schritt Jürgen Sauerland-Freer im Jahrbuch der „Heimat“ von 2007 ausführlich ab: von der Eröffnung (mit einem Tango-Musical) und den allerersten Tanzgastspielen 1989 (mit einer der damals maßgeblichen ersten freien Gruppen namens mind the gap von Kristine Sommerlade) und der Beteiligung an großen landesweiten und internationalen Tanzfestivals im Land, bis zur Gründung des eigenen, zunächst biennalen Festivals „MOVE!“. Die Freuden und Probleme der folgenden Jahre beschrieb er, bis hin zur Forderung, die inzwischen eingestellten Landesfestivals sollten eine würdige Nachfolge bekommen.

Im selben Jahr 2007 lief die erste Ausgabe des biennalen Festivals „Tanz NRW“ vom Stapel, das eine Veranstaltergemeinschaft aus sechs bis (heute) neun Städten kuratiert. Krefeld war und ist natürlich dabei. Auch ist die Fabrik Heeder seit 2008 Partner der in Düsseldorf positionierten biennalen „internationalen tanzmesse nrw“. 2008 wiederum endete die Ära des „Internationalen Tanzfestivals NRW“. Diese Ausgabe erntete große überregionale Aufmerksamkeit und wurde, wie bereits 2004, von Pina Bausch geleitet. Sie starb 2009. Die produktive und fantasievolle Freie Szene des zeitgenössischen Tanzes, gerade in Nordrhein Westfalen, hat ihr viel zu verdanken, ihrem Konzept des Tanztheaters mit seiner Greifbarkeit, seiner Nähe zum Alltag, zu Gefühlen und Wahrnehmungen. Zu Kunst verdichtet und verzwirbelt, kann sich – im guten Falle – Verstehen im Auge und Hirn des Betrachters mit einem Knistern entfalten.

Maura Morales_Wunschkonzert

Maura Morales_Wunschkonzert

Einen kleinen Schlenker zurück: An der Namensfindung für „MOVE!“ war Gianni Malfer beteiligt, der ehemalige Tänzer, dann Manager beim Ballett Schindowski in Gelsenkirchen. Wie ein Coach unterstützte er das junge Festival in der Anfangszeit. Heute bereitet er junge Tänzerinnen und Tänzer auf den Beruf vor: Nach mehreren Stationen als Projekt- und Festivalleiter hat er seit 2014 die operative Leitung des neugegründeten Bachelor-Tanzstudiengangs an der Zürcher Hochschule der Künste inne.

Noch einmal 2014 blickten Jürgen Sauerland- Freer und seine Kollegin Dorothee Monderkamp in der „Heimat“ auf 25 Jahre Kultur in der Fabrik Heeder zurück. Diesmal konnten sie am Ende einen Finanzzuwachs vermelden: die Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen für sogenannte Mittelzentren, Theaterhäuser mit Tanzprogramm in den mittelgroßen Städten Bonn, Mülheim an der Ruhr, Münster und eben Krefeld (seit 2019, erweitert um Performance, auch in Köln und Essen). So konnten sie in Krefeld ab 2014 mit „First Steps“, ab 2018 „First & Further Steps“, eine Aufführungsreihe für den Choreographennachwuchs ansetzen und mit „MOVE! in town“ Tanz in den öffentlichen Raum bringen.

Volles Programm

Neben der Auswahl der Stücke verantwortet die „MOVE!“-Leitung seit Anbeginn auch ein Rahmenprogramm mit Ausstellungen, Filmaufführungen, Workshops, Vorträgen, Exkursionen. Bei den Choreographien setzt sie auf Kombinationen aus Produktionen der professionellen Freien Szene in Nordrhein-Westfalen, also aus der Region, und solchen von außerhalb, aus den ausgewählten Gastländern. Diese kamen häufig aus den Niederlanden, als Nachbarn; aber auch aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Belgien, Spanien oder aus Berlin. Zu sehen waren rasante, gerne mehrteilige Tanzabende. Zusätzlich kam bald der Anspruch zur Geltung, im Haus auch das Produzieren, also das Erarbeiten von Stücken, zu ermöglichen, nicht nur das Gastieren. So gibt es immer wieder Premieren zu feiern – und damit auch den Mut, gepaart mit Vertrauen, bislang Ungesehenes ins „MOVE!“-Programm zu setzen.

Solch bislang Unbekanntes findet sich dort auch immer wieder, indem Gruppen erstmalig eingeladen werden oder Compagnien, die seit kurzem erst in der Szene arbeiten. Manche von ihnen wurden Jahre später in die Spitzenförderung des Landes aufgenommen, ein Ausweis kontinuierlich hoher künstlerischer Qualität. Um nur einige Namen zu nennen, die auch bereits in der Fabrik Heeder zu Gast waren: Mouvoir / Stephanie Thiersch, Ben J. Riepe, Reut Shemesh, Billinger + Schulz, Raimund Hoghe, außerdem Fabien Prioville, HartmannMueller, Julio Iglesias Ungo, das MichaelDouglas Kollektiv.

Was gibt’s?

Über solches Zusammenstellen der Programme im Sinne der Vielfalt und Aktualität oder zu den Verhandlungen über Konditionen und Termine könnten das alte und das neue kuratorische Team bei Gelegenheit Auskunft geben. Denn manches gewünschte Gastspiel kann nicht stattfinden, da die Gruppe gerade woanders spielt oder die Tänzerinnen und Tänzer momentan woanders engagiert sind, was beim freiberuflichen Leben in der Branche vorkommt. Auch könnte es die Freuden des Wiedersehen und Neuentdeckens erläutern, Hoffnungen und Zweifel, was den Publikumszuspruch angeht. Erst einmal sprechen die Programme jedoch für sich.

Und für die Tanzkunst. Was heißt schon regional? Heutzutage signalisieren Plaketten im Supermarkt: von regionalen Erzeugern. Will heißen, die Möhren wurden mit wenig Spritverbrauch herangeschafft. Viele Erzeuger der Tanzkunst in Nordrhein- Westfalen sind selber Zugereiste. Manche von ihnen wurden ausgebildet an einer der hiesigen Ausbildungsstätten, in Köln oder Essen; damit sind sie fast schon hier aufgewachsen. Die Freie Szene aber lebt seit jeher mit Selbstverständlichkeit das Mischen der Hiesigen und der Hinzukommenden. „MOVE!“ bildet dies ab. Im zeitgenössischen Tanz, der sich grundsätzlich als inter- oder übernationale Kunst versteht, als ungebunden, fast wurzellos (was er natürlich nicht ist), ist das kein Problem. Oder fast nie. Auf die Frage nach Besonderheiten von „MOVE!“ antwortete Mitsuru Sasaki, Wuppertal, in Japan geboren, dass sogar Gastspiele aus der Region ganz unterschiedliche kulturelle Herkünfte mitbringen. Inwiefern sich das in den Tanzstücken zeigt, ist meines Erachtens eine andere Frage. Ob es sich zeigt, ohne vielleicht beabsichtigt zu sein, oder ob es sich zeigen soll, aber so nicht wahrgenommen wird?

Pressebilder-MOVE_PianoPiano-Mitsuru-Sasaki©TANZweb.org

Pressebilder-MOVE_PianoPiano-Mitsuru-Sasaki©TANZweb.org

Worum geht’s?

Hier sind wir bei weiteren Inhalten oder Themen der zeitgenössischen Tanzstücke, wie sie „MOVE!“ präsentiert. Dies können zwischenmenschliche Konflikte sein, Beziehungskisten mit vielen Ecken oder Verdrehungen wie das berühmt gewordene Duett „Lovers and other strangers“ der Bonner Gruppe CocoonDance (2006 bei „MOVE!“). Oder innere Dispute, Ängste, Freuden, Sehnsüchte. Manche Künstlerinnen und Künstler gehen den oben erwähnten kulturellen Prägungen und Besonderheiten nach, wobei der Begriff Identität früher weniger befrachtet war als heute. So spürte die 1969 in Recklinghausen geborene Suna Göncü in ihren Choreographien ihrer türkischen Herkunft nach, als jemand mit „kulturellem Background zwischen den Kulturen“, wie sie es nennt. 1996 war sie in der Fabrik Heeder zu Gast, wurde 1999 mit der Premiere von „Seiltänzer“ eingeladen, anschließend in den Jahren 2002, 2004, 2006 zu „MOVE!“. 2002 lernte sie Folklore in Istanbul; danach verfolgte sie in ihren Solo- und Gruppenstücken verstärkt die Idee, diese traditionellen Tänze mit dem westlich-modernen Bewegungsmaterial zu fusionieren. Mit der Zeit, sagt sie, war ihr das Thema nicht mehr so wichtig. Währenddessen wurden mit solcherart Fusion oder choreographierter Begegnung der Brite Akram Khan und der Belgier Sidi Larbi Cherkaoui um 2002 weltberühmt. Großes Thema, es machte auch den zeitgenössischen Tanz groß. Seit einigen Jahren bekommt er wieder verstärkt solche belebenden Infusionen.

Ein anderer Choreograph und Tänzer, der sich schon lange dem Austausch der Kulturen widmet, ist Tchekpo Dan Agbetou aus Benin, der seit 1995 in Bielefeld mit DansArt eine Schule, eine Bühne, eine Compagnie betreibt und für zwei Tanzfestivals zuständig ist. 2012, 2017 und 2019 war er bei „MOVE!“ zu Gast. 2012, erinnert er sich im Gespräch, engagierte er für seine Compagnie fünf Tänzer aus Afrika und der Afrodiaspora, „jeder einzelne von ihnen war ein Star, eine Nummer eins“, auch im Selbstverständnis. Im Auftreten habe das sofort nach Männlichkeitsklischee ausgesehen. Sie im Stück „Three Levels“ zu bändigen, zu etwas Gemeinsamem zusammenzuführen, „das war harte Arbeit“. Dan Agbetou wurde mit der Choreographie auch bis nach Russland, Polen, Litauen eingeladen, tourte in Afrika, eröffnete das Festival „Tanz NRW 2013“. Wie Suna G.ncü verband er das Verarbeiten mehrerer Tanztraditionen beim Choreographieren auch mit emotionalen und spirituellen Fragen, die das Verhältnis des Menschen zum Körper und zum Anderen, zur Welt und zu etwas Höherem betreffen. Und zum erwartungsvoll hungrigen Blick des Publikums.

sisyphos was a woman-maura morales©TANZweb.org

sisyphos was a woman-maura morales©TANZweb.org

Er schätze „das Multikulturelle“, sagt Dan Agbetou. In Krefeld, beim Festival und seiner Leitung erkenne er es, das friedliche Beieinander von Kulturen und auch von unterschiedlichen Tanzcompagnien und -leuten und -zuschauern, treuen und neuen. „Kultur in Bewegung!“ Dem stimmt sinngemäß auch der von mir befragte gebürtige Israeli Avi Kaiser zu.

Eine ganz andere Tanztradition, die jedoch nie traditioneller Tanz war und in Bräuchen verwurzelt, ist der Butoh aus Japan. In den 1960er-Jahren entwickelt und entfernt mit dem deutschen Ausdruckstanz der Weimarer Republik verwandt, wanderte dieser Tanz der Dunkelheit in den 1970er- und 1980er-Jahren nach Europa in die Freie Szene des Tanzes ein. Blieb pur und karg oder wurde aufgepeppt, bunt gemacht, mit Tanztheaterelementen kombiniert. Bei „MOVE!“ ist diese Art zeitgenössischer Tanz bis heute zu sehen, was in Deutschland ungewöhnlich ist. Die Choreographin und Tänzerin Sabine Seume tanzte nach ihrer Ausbildung an der Folkwang- Hochschule in einer Butoh-Compagnie in Frankreich und schuf, zurück in Düsseldorf, zunächst Stücke mit dieser baumwurzelartig sich in die Luft bohrenden Bewegungsweise, mit einem Hauch von Grell und Grotesk, Metamorphosen verkörpernd. Die Wandelbarkeit. Dann choreographierte sie mehrere Tanztheaterstücke für junges Publikum; auch sie waren willkommen in Krefeld, ebenso das Stück über Gewalt, „Gefallene Engel“ (in der Reihe „Tanzstraße“ 2003), das sonst kaum ein Theater zu zeigen wagte.

Henrietta-Horn-Contrapunctus@TANZweb.org_Klaus Dilger

Henrietta-Horn-Contrapunctus@TANZweb.org_Klaus Dilger

Der andere Butoh-Künstler war und ist Mitsuru Sasaki, 1944 in Japan geboren. Seit 1994 war er neunmal mit seinen Werken, auch mehreren Premieren, bei „MOVE!“. Die Choreographin Susanne Linke hatte ihn, den in Ballett, Pantomime und Butoh Ausgebildeten, 1980 für die Folkwang- Hochschule angeworben, berichtet er. Für das Ensemble Folkwang Tanzstudio schuf er als leitender Choreograph große Werke und ging weltweit auf Tour. „Als ich von der Geschichte der Seidenindustrie in Krefeld erfuhr, fiel mir die Verbindung zu meinem ersten in Deutschland geschaffenen Tanzstück ‚Die Seidenstraße‘ auf, und so entstand der Wunsch, auch in Krefeld aufzutreten.“ Das ging, da er sich ab 1993 Solos und Duos widmete, in kleineren Formaten. Mit großen Titeln und Themen: Mit „Human Power Flight“ betrat er damals zum ersten Mal die Heeder-Bühne im Rahmen des „NRW. JAPAN-JAHR ’93“. Mit „Der reine Tor“ kam er schon 1994 wieder, zum ersten „MOVE!“. Die winzigste, langsamste Bewegung kann groß werden, Flug sein, naives Herumirren auf der Erde. Verwandlung, Spiel.

Das erwähnte Folkwang Tanzstudio war seit 1996 neunmal bei „MOVE!“, beginnend mit dem wunderbar soghaften, den Tod, die Liebe und das Leben feiernden „Drops of rain in perfect days of June“ des schottischen Choreographen Mark Sieczkarek, Wuppertal. Das Stück war seinem an AIDS gestorbenen Partner, einem Dichter, gewidmet: choreographierte Übergänge, Durchgänge und sanftes Überfließen. Von 1999 bis 2008 leitete Henrietta Horn das Ensemble (offiziell gemeinsam mit Pina Bausch) und zeigte fast alle ihre Werke in Krefeld. Als Choreographin ging und geht sie eher von Einzelelementen des Tanzes aus, einer einzigen Bewegung, einem Atemholen, einem Taktschlag, und vervielfacht sie zu komplexen, überraschend in neue Ecken abbiegenden Gebilden.

Inzwischen ist Rodolpho Leoni für diese Jungprofi-Compagnie zuständig, auch er ein alter Bekannter in Krefeld. Der Brasilianer war früher fast jedes Jahr mit einem Stück zu Gast in der Fabrik Heeder, dreimal bei „MOVE!“, neunmal insgesamt, manchmal mit zwei Vorstellungen. Als Gastchoreograph des Gelsenkirchener Ballett Schindowski (1996), ab dann mit seiner eigenen Compagnie rodolpho leoni dance, 2015 mit dem Folkwang Tanzstudio. „Ich interessiere mich einfach für Bewegung, immer noch, und was man damit machen kann, unabhängig von Aussagen oder Nicht-Aussagen“, sagt er. Bei den frühen Stücken habe er sich wenig Gedanken gemacht, habe „mehr gefühlt, mehr gespielt“, sich dabei von Musik, Ideen, Bühnenbild inspirieren lassen und von den vier „Superpowertänzerinnen“, mit denen er arbeiten konnte. „Da habe ich diese Bewegungsfreude rausgelassen“, kombiniert mit theatralisch-witzigen Elementen. Ab 2001 sei er puristischer geworden, habe mehr auf choreographische Komposition geachtet, auf Relationen, und die Unisono- Bewegung abgeschafft.

emanuelesoavi-INVASION©TANZweb.org_Klaus-Dilger

emanuelesoavi-INVASION©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Und eins und zwei

Noch einmal Stichwort regional: Wer Tanz macht, braucht Boden. Auch die größten, tollsten internationalen Festivals können nur Werke einladen, die geschaffen werden von Künstlerinnen und Künstlern, die ihre ersten choreographischen Schritte auf ein paar Quadratmetern Tanzboden gemacht haben und dann ihrem ersten Publikum vor die Augen traten. Und dann die zweiten Schritte, die dritten. Genau dafür sind Festivals wie „MOVE!“und Häuser wie die Fabrik Heeder notwendig. Kunst überlebenswichtig. Das bestätigten mir alle Befragten. Die Lage abseits der Metropolen und des Hypes und die überschaubare Bühnengr..e schützten und unterstützten dieses kreative Arbeiten. Hinzu kommt, worauf Rodolpho Leoni hinweist: Kleine Tanzcompagnien sind oft uninteressant für große Festivals; die kleineren Festivals wiederum können sich große, berühmte Gruppen nicht leisten. Also profitieren sie beiderseitig voneinander.

Zur Boden-Ständigkeit gehört in gewissem Sinne auch das junge Publikum, Kinder und Jugendliche, die nicht das angebliche Publikum von morgen sind, sondern höchst gegenwärtig. So direkt. Einer der großen Verdienste von „MOVE!“ ist, sie seit vielen Jahren schon im Programm mitzubedenken. Die erwähnte Gruppe mind the gap war künstlerisch Vorreiterin in Nordrhein-Westfalen. Es folgten, bei „MOVE!“ zu sehen, Sabine Seume und Barbara Fuchs, von Düsseldorf und Köln aus, mit Kinderstücken; 2018 zeigte die junge Choreographin Fang Yun Lo, Essen, mit ihrem Ensemble Polymer DMT ihr erstes Stück für Kids, „Luceo“.

Ja, das Publikum

Es wird bei den Antworten der von mir befragten Choreographinnen und Choreographen zu den Besonderheiten von „MOVE!“ stets erwähnt und gelobt. Es komme aus wirklichem Interesse und sei konzentriert. Freudig, auch kritisch. Im Saal ist es so nah an den Tanzenden, dass diese sie immer sehen können, anders als bei großen Theatern. Dadurch entsteht „etwas Energetisches“, sagte Henrietta Horn; „die besondere Intimität“ erwähnten viele meiner Gesprächspartner und -partnerinnen. Ilona Pászthy findet die Krefelder etwas reservierter als die lautere Kölner Zuschauer bestätigen, dass es am Ende einer Aufführung zuweilen ganz still ist. Und – dann braust der Applaus. Diesem Publikum bietet „MOVE!“ auch schon seit langem Gespräche an, den moderierten Austausch mit den Tanzschaffenden, die „MOVEtalks“. Da darf alles gefragt werden.

The Hidden Door_Iglesias Ungo_MOVE Krefeld_ ©TANZweb.org

The Hidden Door_Iglesias Ungo_MOVE Krefeld_ ©TANZweb.org

Drinnen

Die Art, wie Tanzkünstlerinnen und -künstler den Bühnenraum in der Fabrik Heeder beschreiben, ist ein eigenes Kapitel wert. Neben der warmherzigen Gastlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen dort, einschließlich des technischen Teams und seines viel gelobten Leiters Reinhard Lange, ist dieser Saal das Besondere, das sofort genannt wird bei der Frage nach „MOVE!“-Erfahrungen. „Der Raum ist nicht steril, er ist eher Natur, wie der Mensch“, so die Charakterisierung von Tchekpo Dan Agbetou. Mark Sieczkarek empfindet es ähnlich: „Ein sehr offenes Gefühl und gleichzeitig ziemlich intim“. Für das Menschsein auf dieser Bühne, in Form von Tanz, sei er sehr passend. Auch mit seiner Wandelbarkeit, die Fang Yun Lo beschreibt: Der Ausschnitt ihres mit Lichtund Klangkon trasten ausgestatteten eher dunklen Duetts „Das Nichts“ (späterer Titel: „Die Anderen“) bekam 2013 die gewollte Stimmung, „der hohe, hallige Raum mit den Galerien hat etwas von einem Club oder fast einem Bunker“; aber ebenso das mit Farben, Gags und Bauelementen gefüllte Familienstück „Luceo“ mit seinem riesigen Vorhang passte gut hinein. So nah am Publikum, dass Kinder spontan die Bühne enterten. Die Taiwanesin freute sich.

„Schön“ nennen etliche Choreographen und Choreographinnen diesen Saal und „speziell“, „hat Charme“; er sei wegen seiner Eigenheit erinnerbar, anders als viele normale Bühnen der Welt. Den „industriellen Touch“ und eine Nicht-Theater- Vergangenheit zu haben, das schätzt der Kölner Choreograph und Tänzer Emanuele Soavi. Ähnlich Mitsuru Sasaki: Genau dies „ist die richtige Basis, um Emotionen von heute zu vermitteln, mit Hilfe und in Kombination von moderner Technik“. Der Musiker Michio Woirgardt, Arbeitspartner der kubanischen Choreographin Maura Morales mit Wohnsitz Düsseldorf – seit 2013 waren sie fünfmal bei „MOVE!“ zu Gast – erinnert sich an den ersten Eindruck: „industriell, die Höhe, morbid, kein neutraler Saal“, was er gut fand. „Zur Rauheit und Körperlichkeit passt das Ambiente, das nicht verschwindet“. Morales, die auch oft in ihren eigenen Stücken tanzt, ergänzt: „Du bist aber auch schutzlos darin, du bist sehr sichtbar“. Im Grunde sei dieser „schnörkellose“, rohe Raum ein Protagonist in dem Stück, das er beherbergt. Eine zusätzliche Beziehung muss geknüpft werden.

©TANZweb.org_Klaus Dilger_My Body is your Body Overhead Project

©TANZweb.org_Klaus Dilger_My Body is your Body Overhead Project

Tim Behren von Overhead Project aus Köln: „Die Säulen nerven“. Die notwendige Adaption der Stücke erwähnten etliche der Choreographinnen und Choreographen im Gespräch. Dass sie eigentlich immer gelang, lag, sagen sie, am Technikteam, das nie kategorisch „geht nicht“ sagte, ohne nicht einen Lösungsvorschlag zu machen (das sei nicht in allen Theatern selbstverständlich). Aber das Gelingen verdanken sich die Choreographinnen und Choreographen auch selbst, indem sie in angemessener Probenzeit ihre Stücke so umarrangieren, dass sie mit dem Raum zurechtkommen, den Säulen, den offenen, niedrigen Gängen dahinter und der fehlenden Sicht des Publikums auf einen Teil des Bühnenbodens. Da sich damit nicht nur Beleuchtungen und Bühnenbilder verändern, sondern auch Distanzen und Timings in der Choreographie, müssen die Tänzerinnen und Tänzer superschnell umlernen. Eine wichtige Erfahrung und Übung für den Nachwuchs, sagt Henrietta Horn. Denn das Adaptieren gehört zum Gastieren und das Gastieren zum Tänzerleben. Zudem war es an den Choreographinnen und Choreographen, in dem Raum, den sie „sperrig“ oder „ehrlich“ nennen, zu entscheiden und zu verdeutlichen, was in ihrem jeweiligen Stück wichtig oder unveränderbar ist und was nicht. So formulieren es sinngemäß Henrietta Horn, Vera Sander aus Köln und Toula Limnaios aus Berlin.

Beweglichkeit

Mit dem Anpassen ging Henrietta Horn einmal ganz anders vor. Sie schmiegte ihr vierteiliges erstes Stück „Dankhang“ 1996 derart dem Heeder-Saal an, dass sie die drei Säulen nachbauen ließ für Gastspielreisen. In einen Hänger verpackt, wurden sie durch Europa gefahren. „Wo sind die eigentlich geblieben?“ fragt sich Claudia Lüttringhaus, die das damals managte und bis heute für das Folkwang Tanzstudio arbeitet. Andere Choreographinnen und Choreographen wie etwa Ilona Pászthy, Emanuele Soavi oder Rafaële Giovanola von CocoonDance ließen sich durch die erwähnte Offenheit inspirieren und inszenierten die halb sichtbaren Nischen, die Balkongalerien, das Foyer, den Eingang oder den Fahrstuhl gleich mit, oder sie ließen, wie auch Overhead Project aus Köln, die Zuschauerränge umbauen in zwei gegenüberliegende arenahafte Teile. Oder ließen sie ganz weg, so dass sich niemand setzen kann. Diese Freiheit dürfen sich die Kreativen schon seit dem ersten „MOVE!“- Jahrgang nehmen. Das ist bemerkenswert und symptomatisch. Die Variabilität der Bühnensituation – weg vom Guckkasten! – wird gerade im zeitgenössischen Tanz schon lange praktiziert. Immer wieder geht es um den Blick, um Perspektiven und ihre Veränderbarkeit.

MIRA-7_Thuley©TANZweb.org_Klaus-Dilger

MIRA-7_Thuley©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Draußen

Nach den leidenschaftlichen Erfahrungen der Tanzschaffenden mit der Heeder-Bühne müssen auch „fused“ und „MOVE! in town“ erwähnt werden. In den Jahren 2005 und 2007 hatte das Kulturbüro für die Extrareihe „fused – TanzKunst in Krefeld“ das Zusammenarbeiten von Choreographinnen und Choreographen aus Nordrhein- Westfalen und Krefelder Kunstschaffenden initiiert. „Zwangshochzeit“ nennt Vera Sander es im Rückblick halb scherzhaft, das sei kein Zuckerschlecken gewesen. Das Risiko des ungewissen, weil nicht ganz kontrollierbaren Ausgangs, das gemeinsame Experimentieren war für Sabine Seume und CocoonDance eine Bereicherung, sagen sie. Seit 2014, wie schon erwähnt, kann das Kulturbüro dank der Mittelzentrenförderung des Landes bei „MOVE! in town“ weitere Orte in der Stadt einbeziehen, den öffentlichen Raum, und regt so das ortsspezifische choreographische Arbeiten an. 2019 und 2020 auch in historisch architektonisch besonderen Gebäuden, wie dem Bernhard-Pfau-Bau der heutigen Hochschule Niederrhein, Fachbereich Design. Dem Choreographen Emanuele Soavi gefiel, dass Karl Lagerfeld einst in Krefeld eine spektakuläre Modenschau abgehalten hatte und griff die Idee 2019 inszenatorisch auf in seinem von Jacques Offenbach inspirierten Stück. „Larmes bouffes – Komische Tränen“ lud das Publikum zum Parcour durch die Gebäude ein („Invasion“ hieß die spätere Bühnenversion). 2020 führte die Kölner Choreographin Julia Riera ihr leises Quartett „MIRA 9_was uns trennt und bindet“ im Café Ludwig im Mies van der Rohe Businesspark als Premiere auf. Der Blick durch die großen Fenster gehörte dazu: Sinnbild fürs Abstandhalten, für Trennen und Verbinden.

Glück haben

Den Freiluft-Aufführungen ist das oben erwähnte Risiko des Unvorhersehbaren immanent. Ilona Pászthy, Köln, geht damit seit vielen Jahren um, etwa indem sie ihre Tänzerinnen und Tänzer mit butoh-hafter Langsamkeit Kontraste zu Getümmel bilden lässt („TIMEgaps“, 2012 bei „MOVE!“). Sie suchte sich 2015 einen sonderbaren Krefelder Ort aus, der selber aus Kontrasten bestand: die fast verlassene Siedlung Hohenbudberg vor der Kulisse gigantischer Industrieanlagen und dem Rhein. Die Szene, in der die langen Gräser des Ufergrüns mitspielen sollten mit ihren Bewegungen, fiel bei der Premiere weg. Die benachbarte Schafherde hatte sie abgegrast, erzählt die Choreographin. Ihr Thema war Gewalt, die an dem Ort als Verdrängung sichtbar war. Viele ehemalige Bewohner des Orts kamen, um „Stille“, diesen stummen Schrei, zu sehen.

„Die schönste Erfahrung in meiner Karriere“, beginnt Avi Kaiser seine Erinnerung an „MOVE! in town“. Weil er begriff, „dass die Kunst zu den Leuten kommen kann“, statt immer umgekehrt. Er hatte mit Tänzern und Musikern im Botanischen Garten geprobt, bei der Premiere regnete es. „Die Leute kamen mit Schirmen“. Er war baff und dankbar. „Das war für mich ein Lernprozess. Wo und wie soll Kunst gezeigt werden!? Es gibt tausend Möglichkeiten.“ Die zweite Aufführung sollte nach Dauerregen gerade abgesagt werden, da standen aber schon zweihundert Leute mit ihren Schirmen. Der Regen hörte auf. 2012 bei „Kultur findet Stadt(t)“ sollte seine Compagnie an einem sonnigen Samstag auf der Kreuzung einer Fußgängerzone auftreten. 14 Uhr. „Da war niemand“. Er und sein Partner Sergio Antonino begannen zu tanzen, „zwei Männer, nicht die jüngsten, ein heftiges Programm“. Nach drei, vier Minuten standen lauter Leute mit Einkaufstüten um sie herum. „Ich dachte: ein Theater der Welt!“. Die Art des Tanzes, „das war nicht jedermanns Sache“, war ja kein HipHop oder Jazz, sagt Kaiser. Das hatte das Kulturbüro gewusst. „Den Mut muss man haben“. Diese Art Begegnung findet er wertvoll. Sie sollte vermehrt werden. „Wenn Corona etwas längerfristig verändert, dann in diese Richtung.“

Thomas Noone©TANZweb.org_Klaus Dilger

Thomas Noone©TANZweb.org_Klaus Dilger

Erwartungen

Die Pandemie wird auch ihre Spuren in choreographischen Werken hinterlassen. Tut sie schon. Und plötzlich haben Open-Air-Aufführungen einen hygienischen Vorteil; das Genre, das ein bisschen aus der Mode war – aber nicht bei „MOVE!“ – bekommt allgemein Aufwind. Die forcierte Technisierung, all die OnlineÜbertragungen und -Präsentationen von Bühnenkunst überfielen den zeitgenössischen Tanz auch nicht unvorbereitet. Film als bewegten Mitspieler auf der Bühne zu inszenieren, ist ein alter Hut; das Projizierte auf elektronisch-sensorische Weise mit den tanzenden realen Körpern zu verbinden, auch so etwas war schon vor Jahren bei „MOVE!“ Gastspielen zu sehen. Überwachungstechnik war mal ein Schlagwort und Tanz-Thema. Die Technik, die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, das verändert sich. Was macht das alles mit den Menschen? Mitsuru Sasaki:„‚MOVE!‘ fand in der Vergangenheit vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung, der AIDS-Pandemie, den Terroranschlägen in den USA und der wirtschaftlichen Rezession statt“, oder der Fukushima-Katastrophe. „Und heute findet es trotz der Corona-Pandemie statt. Ich habe die Hoffnung, dass aus unserer jetzigen Situation eine neue Richtung des Tanzes und der Kunst geboren wird. Bei ‚MOVE!‘ können Sie Experimente unserer Zeit sehen.“

Immer noch: dageblieben

Sasaki ist der Ehrensenior von „MOVE!“. 2018 und 2019 leitete er bei „MOVE!“ Tanzworkshops für Ältere, 2020 kam die Premiere seines Solos mit dem ironisch beschwichtigenden Titel „Piano Piano“ dort heraus. Immer wieder. Immer noch da sind beispielsweise Rafaële Giovanola und Rainald Endraß, CocoonDance, die seit dem oben erwähnten liebeskampflustigen Duett 2006 noch fünfmal bei „MOVE!“ auftraten; bei anderen Reihen und Festivals waren sie ab 2002 mit neun weiteren Stücken zu Gast. Ihre heutigen Choreographien scheinen mit einer unduldsamen Treiber-Software die tanzenden Körper zu entseelen und in Hybridwesen aus Mensch- Maschine-Tier zu verwandeln. Noch da ist auch die Cie. Toula Limnaios des Künstlerpaars Toula Limnaios und Ralf Ollertz, die in Berlin demnächst ihr 2003 bezogenes eigenes Haus, die Halle, vergrößern. 2006, 2010 und 2013 gastierten sie in der Fabrik Heeder, in der dafür „günstigen Phase“, sagt Limnaios. Denn ab 2013, nach „reading tosca“, mit dem für die Heeder-Bühne eigentlich zu riesigen Kleid, schuf sie größere, „polyphone Choreographien“. Die erwähnte Kristine Sommerlade (mind the gap) übernahm 2004 in England die Leitung einer Tanzorganisation, wurde 2018 promoviert und ist Dozentin an der Canterbury Christ Church University. Die Brasilianerin Sayonara Pereira, die nach dem Aufbaustudium an der Folkwang- Hochschule ums Jahr 2000 herum ihre ersten Choreographien in der Fabrik Heeder und auch bei „MOVE!“ zeigte, ist Professorin in São Paulo, publiziert viel und leitet ein „Labor für Tanztheater“. Nicht mehr unter uns ist Christine Brunel, sie starb 2017. Pereira war jahrelang Tänzerin bei ihr. Brunel, die Französin aus Essen, die 1991 zum ersten Mal in der Fabrik Heeder und 2013 auch bei „MOVE!“ mit einer Premiere gastierte, war eine Könnerin der Reduktion, des in der Folkwang Tradition hochgehaltenen Wesentlichen, so modern im Sinne der Moderne, dass ihre Choreographien nie alt wirkten. Wie Gedichte im Raum, die um ihre Schwerkraft wissen und sie auspendeln. Im April 2021 verstarb Sabine Seume, auch sie eine Geradlinige im Sinne des Vertrauens in ungeschmückten Tanz. Raimund Hoghe, der im Mai 2021 mit 72 Jahren starb, stand für den Glauben an das Zarte, Zeremonielle und Verbindliche des Tanzes und seiner Bühne.

Dass so viele noch da sind und ihre Kunst machen, zeigt, dass „MOVE!“ stets auf Künstlerpersönlichkeiten setzte, für die der Tanz Berufung, aber eben auch Beruf war oder gerade wurde. Es spricht für die Städte und das Land Nordrhein-Westfalen, die solche langjährigen Tätigkeiten in der nicht mit Popularität gesegneten Branche ermöglichen, und fürs Überlebensgeschick Überlebensgeschick und die Kraft der Tanzschaffenden. Vera Sander und Rodolpho Leoni haben seit 2006 Professuren inne, sie an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz, er an der Folkwang Universität der Künste in Essen, dort seit 2021 auch Henrietta Horn. Alle drei unterrichten viel, choreographieren weniger, aber haben nicht aufgehört. Wie Mark Sieczkarek. Er arbeitet jetzt als Regisseur, „fast als hätte ich die Zukunft gesehen“, sagt er. Sein Tanzfilm „Malou & Dominique“ war 2019 als App Programmteil von „MOVE!“.

Auf Wiedersehen

„MOVE!“ ist nicht etwas, das man als Choreographin oder Choreograph irgendwann hinter sich lässt auf dem Weg an größere Häuser in aller Welt. Nein, diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, kommen alle gerne wieder, immer wieder. Der Dramaturg von CocoonDance, Rainald Endraß, drückte es so aus: „Man müsste eine Hymne singen auf solche Orte“. Dieser Artikel ist eine.

Melanie Suchy, Jahrgang 1965, ist Kulturjournalistin und Tanzkritikerin in Düsseldorf und Frankfurt am Main. Sie schreibt für Tageszeitungen, Fachmagazine, Online- und Festivalpublikationen und TANZwebNRW.de.

Dieser Artikel wurde verfasst im Auftrag des Kulturbüros der Stadt Krefeld, gefördert durch die Kunststiftung NRW.

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