Tanztheater Wuppertal und Pina Bausch Foundation

Alte Sehnsucht trifft frische Erinnerung

Dreiteilige Tanzabend mit Café Müller / common ground[s] / Das Frühlingsopfer im Opernhaus Wuppertal mit drei verschiedenen Besetzungen für Café Müller. Nach der Premierenbesprechung von Lilo Weber, sah sich Martina Burandt für uns die dritte Besetzung an.

Eindrücke von Martina Burandt

Als wir das Foyer des Wuppertaler Opernhauses betreten, fällt mir sofort das bekannte Schwarz-Weiß-Foto in den Blick: Pina Bausch in ihrer Choreografie Café Müller. Wie ein Engel steht sie da, barfuß, im weißen langen Kleid. Einige Male habe ich das legendäre Stück, das 1978 uraufgeführt wurde, gesehen – aber nur als Film. Nun, dreizehn Jahre nach dem Tod von Pina Bausch, die zu den bedeutendsten Choreograf*innen des zwanzigsten Jahrhunderts gehört, sehe ich Café Müller zum ersten Mal live.

Sanft dahinfließend, poetisch und melancholisch zugleich, beginnen Musik und Tanz. Eine Frau im weißen Kleid geht durch eine gläserne Schwingtür im Kreis und im Kreis. Eine andere läuft vor Spiegelwände, eine dritte, ebenso barfuß und im weißen Kleid, geht wie blind durch den mit Holzstühlen und Caféhaus-Tischen gefüllten Raum, ein Mann versucht in aller Eile und mit viel Lärm, ihr den Weg frei zu räumen. Während das Sinfonieorchester Wuppertal Henry Purcell’s  Musik so wunderbar klingen lässt, sehe ich in Gedanken überall die verstorbene Pina.

In drei unterschiedlichen Besetzungen lässt Boris Charmatz, Intendant des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch, das Stück  tanzen. Heute sind es Emma Barrowman, Çağdaş Ermiş, Letizia Galloni, Simon Le Borgen, Reginald Lefebvre und Tsai-Wei Tien.

Schnell ist man in das dichte Geschehen um Sehnsucht und Verlangen hineingezogen. Auch nach über vierzig Jahren seit der Uraufführung haben die starken Gesten der Figuren, wie auch die choreografischen Bilder in ihrem speziellen Ambiente, an Wirkung kaum verloren. Deutlich sind auch die unterschiedlichen Charaktere neu herausgearbeitet, die alle nicht wirklich zueinander finden.

Emma Barrowman, in der früheren Rolle von Pina Bausch, trägt das schwere Erbe wie eine stille Beobachterin aus weiter  Ferne. Letizia Galloni, blind vor Sehnsucht, agiert federleicht wie eine verletzliche Traumwandlerin und doch fehlt es ihr noch an Profil im Ausdruck. Tsai-Wei Tien, überzeugend in ihrer Rastlosigkeit und präzisen Gestik, mimt sie eine getrieben Suchende, die sich mit Trippelschritten an die Fersen der Männer hängt.

Allerdings verblassen die Männer. Bis auf Çağdaş Ermiş, der in der Rolle des „Stühle-Räumers“ geradezu verzweifelt engagiert agiert. Die beiden anderen wirken, als seien sie noch nicht in ihren Figuren angekommen. Wie in Bausch`s Choreografie festgelegt, halten und tragen sie die Frauen, lassen sie wieder fallen, räumen ihnen den Weg frei, zeigen ihnen, wie sie sich an ein Mannsbild zu klammern haben oder lassen sich eine kleine Weile auf sie ein.

Die Neueinstudierung eines zum Klassiker gewordenen Tanztheaters ist zunächst eine Kopie. Noch fühlt sie sich nicht ganz so an, als hätten sich alle sechs Tänzer*innen (wie die Arbeitsweise von Pina Bausch oft beschrieben wird) von innen heraus an die Thematik herangearbeitet. Noch ist dem Ensemble das Stück nicht in den Leib geschrieben. Noch bleibt eine Distanz – nach innen wie nach außen.

Und dennoch zieht das stück sein Publikum mit ästhetischer  wie tänzerischer Perfektion in einen fast nostalgischen Bann. Der Genuss lässt sich wie das Betrachten eines meisterhaften alten Bildes beschreiben.

Vielleicht aber braucht es einfach noch ein wenig Zeit, um das Café Müller der 70er Jahre mit dem Lebensgefühl von 2023 zu verschmelzen.

Cafe-Mueller-photo-Ulli-Weiss©-Pina-Bausch-Foundation

Cafe-Mueller-photo-Ulli-Weiss©-Pina-Bausch-Foundation

Der zweite und dritte Teil des Abends steht im Zeichen des Austauschs. Denn dieser dreiteilige Tanzabend ist der erste gemeinsame Abend der Pina Bausch Foundation mit dem Tanztheater Pina Bausch. Hierfür kooperiert die Foundation mit dem Sadler`s Wells theatre und der École des Sable im Senegal, die mit der Neuinszenierung von Das Frühlingsopfer mit einem eigenen Ensemble beauftragt wurde. Gründerin der École des Sables ist die mittlerweile 79 Jahre alte Tänzerin und Choreografin Germaine Acogny.

Das 2021 uraufgeführte Duett common ground[s] von und mit Germaine Acogny und Malou Airaudo kann als Bindeglied zwischen tanzgeschichtlicher Vergangenheit und Gegenwart verstanden werden. Germaine Acogny gilt als „Mutter des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes“. Malou Airaudo, Ikone früherer Pina Bausch-Stücke, tanzte auch einmal in „Café Müller“ und war langjährige Leiterin der Tanzausbildung an der Folkwang Universität in Essen.

Das Duo common ground[s] ist vom Leben dieser außergewöhnlicher Frauen inspiriert. In ihrem Duett erforschen die beiden gemeinsame Geschichten und emotionale Erfahrungen. Die Gesten von Germaine Acogny erinnern manchmal an traditionelle afrikanische Tänze, in denen Alltagshandlungen in Tanzbewegungen zu erkennen sind. Doch bleiben viele weitere Ideen und Beweggründe der Choreografie schwer entschlüsselbar. Auch dramaturgisch fehlt es an Spannung, Erzähl- und Bildkraft. Allein der Gegensatz der  schwarzen und der weißen Tänzerin sowie die gemeinsame Präsenz ihres hohen Alters auf der Bühne faszinieren. Doch gehört der Applaus am Ende vermutlich eher dem Lebenswerk der beiden Künstlerinnen als der hier gezeigten Arbeit.

TRIPPLE-BILL-TTW_Common-Grounds@TANZweb.org_Klaus-Dilger.

TRIPPLE-BILL-TTW_Common-Grounds@TANZweb.org_Klaus-Dilger.

Das Beste kommt zum Schluss, heißt eine Redewendung. So wird das sogenannte Schlüsselwerk von Pina Bausch Das Frühlingsopfer von 1975, im dritten Teil dieses Abends, von einem eigens dafür zusammengestellten Ensemble von 33 Tänzer*innen aus vierzehn afrikanischen Ländern, getanzt.

Diese Neu-Einstudierung von 2021 erscheint – ganz anders als Café Müller – bald 50 Jahre nach seiner Erstaufführung – in aktueller Frische und geht mit seiner Intensität direkt in den Bauch und ins Blut. Sicherlich ist es auch Strawinkys Musik, die mit ihren außergewöhnlichen  rhythmischen und klanglichen Strukturen und Dissonanzen (gespielt vom Sinfonieorchester Wuppertal) in eine aufpeitschende Stimmung führt. Doch dieses Ensemble tanzt nicht nur eine Kopie, sondern mit Körper und Seele, auch wenn es letztere nicht geben mag.

Die Idee zum Stück, in dem eine junge Frau erwählt wird, um sie dem Frühlingsgott zu opfern, stammt von Igor Strawinsky. 1913, einen Tag vor dem Beginn des ersten Weltkriegs, wurde dieses Stück, in der Choreografie von Vaslav Nijinsky in Paris uraufgeführt und sorgte für einen riesigen Skandal in der Musik- und Theaterwelt. Bis heute versuchen sich Choreograf*innen immer wieder daran. Die Choreografie von Pina Bausch zählt zu den besten.

Interessant ist, wie vielschichtig und anders dieses Stück in seiner jeweiligen Zeit gesehen werden kann, auch wenn es von einem komplett schwarzen Ensemble getanzt wird.

Mit vollem Einsatz und in tänzerischer Präzision funktionieren sowohl die Tanzsprache der Vorlage wie die choreografischen Bilder im Raum mit Kreisen oder pulkartigen Gebilden und auch die immer wieder daraus wild losgelösten Solos, Duos und Trios.

Beinahe meint man die Kontraktionen der jungen Frauenkörper, ihr intensives Zittern, im eigenen Körper zu spüren. Wie in einem getriebenen Initiationsritual tanzen sie glaubhaft und mit entfesselten Sprüngen das Erkennen der Dimension ihrer eigenen Sexualität. Die zuweilen herausfordernde  Körpersprache der Männer spielt daneben immer wieder auch mit drohendem Machtgebaren. Stark wirken ihre muskulösen, freien Oberkörper neben den jungen Frauen in weißen, leichten Trägerkleidern. Damit scheint auch eine Abbildung patriarchal gesteuerter Geschlechterverhältnisse durch.

So liest man in dieser Neuinszenierung nicht nur den Neuanfang des Frühlings, den Anfang eines immer neuen Endes, einen rituellen Tanz um Fortpflanzung oder das Verhältnis von Männern und Frauen im Allgemeinen. Sondern da legen sich gleich auch konkrete Bilder patriarchaler Gewalt über all die aufregenden, schöneren Bilder zu Sexualität, Ritual und Neuanfang – sei es im Blick auf diesen oder jenen Kontinent.

Doch lenkt man den aufgewühlten Blick auf den erwählten  männlichen Partner, mit dem die junge Frau das Opfer vollziehen soll, so muss man erkennen, dass dieser bis zum Ende, in starrer Position liegend, passiv wartet. Währenddessen tanzt sich die Auserwählte lieber zu Tode, als den rituellen Auftrag der Vereinigung mit ihm zu erfüllen – ganz so wie in der Choreografie von Pina Bausch vorgesehen.

Egal, welche Brille man als Betrachter*in gerade trägt: Was an dieser Choreografie am meisten berührt, ist die atemberaubende Energie und Einheit dieses unglaublich präsenten Ensembles. Bravo!

TRIPPLE-BILL-TTW_Le-Sacre-Du-Printemps_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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