„Backt Kekse, backt Kekse,… sonst sind wir verloren!“

Zum virtuellen Festival „Pina Bausch Zentrum – under construction“

Vom 21. bis 29. November im Netz und teilweise als Projektion auf das Alte Schauspielhaus in Wuppertal an der Kluse

von Klaus Dilger

„Innovativ, kreativ und experimentell – (…) werden Glückskekse gebacken, mit täglichen digitalen Warm-Ups für die ganze Familie, Workshops von Yoga über GAGA bis hin zu zeitgenössischem Tanz, künstlerischen Interventionen, Masterclasses, filmischen Arbeiten, Musik zum gemeinsam Genießen, Tanzfilmen im Nachtprogramm, Podcasts, Panels und Diskussionen, Außenprojektionen und Liveschaltungen.“

Mit diesen Worten bringt die Presseankündigung des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch auf den Punkt, was die Menschen in Wuppertal und der Welt in den kommenden neun Tagen, vom 21. bis zum 29. November, interessieren und anregen soll, gemeinsam „ein Haus zu bauen“, nämlich das zukünftige Pina Bausch Zentrum an der Wuppertaler Kluse. Ein Projekt, das das Potential haben könnte, die visionäre Kraft der Pina Bausch aufzunehmen und das erste nationale Zentrum für Choreographie in Deutschland zu werden. Das Potential, die talentiertesten Künstler_innen und Denker_innen, zumindest zeitweise, in Wuppertal zu versammeln und von dort aus regional, national und international auszustrahlen und mit der TANZkunst gesellschaftliche und politische Anstösse in die Welt zu senden.

„Tanz, tanz, sonst sind wir verloren…!“ lautete die Aufforderung eines kleinen Mädchens an Pina Bausch, das in seiner kindlichen Offenheit etwas gesehen oder gespürt haben muss, das nicht nur den Macher_innen dieser neuntägigen „Baustelle“ abhanden gekommen scheint: die visionäre Kraft des Tanzes, die Tore zu öffnen vermag – in uns und weit darüber hinaus.

Digitales Kekse backen mit Dr. Marc Wagenbach

Stattdessen digitales „Keksebacken mit Marc Wagenbach“, der ansonsten nicht nur für dieses Programm verantwortlich zeichnet, sondern ganz prägend auftritt: Marc Wagenbach moderiert zum Auftakt das Gespräch mit Ministerin Pfeiffer-Poensgen und Oberbürgermeister Uwe Schneidewind, Marc Wagenbach sendet am darauffolgenden Tag gleich drei seiner Podcasts „Marc Wagenbach im Gespräch mit… | Let’s talk about dance“, Marc Wagenbach moderiert und präsentiert sein „Lieblingsformat“ – wie er in der Pressekonferenz verraten hatte – „Archiv der Träume“, ehe Marc Wagenbach, wie bereits erwähnt, gemeinsam „Kekse backen“ wird. Eine Dauerpräsenz, die sich in den verbleibenden sieben Tagen durch das Programm ziehen und auswirken wird.

Diese Skepsis darf nicht als persönlicher Angriff missverstanden werden, sondern als Mahnung, aus den Erfahrungen seit 2015 (spätestens) endlich zu lernen.

Dabei wären ein paar zusätzliche Köpfe durchaus bezahlbar gewesen: rund 250.000 Euro beträgt das Budget für diese Veranstaltung, wie auf Nachfrage der Medien zu erfahren war.

Collage(c)Robyn Orlin

Collage(c)Robyn Orlin

Vom Analogen ins Digitale

„Was als analoges Arbeitstreffen und Teilhabe für die Stadtgesellschaft gedacht war, soll nicht einfach abgesagt werden, sondern offensiv als Erprobung digitaler Möglichkeitsräume stattfinden“,

heisst es weiter in der Mitteilung an die Presse, die dann natürlich nachfragt, welche Strategien es denn gäbe, um das digitale Format des „Streamings“ aus dem Alten Schauspielhaus tatsächlich, auch körperlich erlebbar zu machen, denn genau darum geht es doch im Tanz: Körper – den eigenen und den des Anderen – und um Gravität?

Eine Antwort darauf gibt es in der Pressekonferenz nicht, lediglich der etwas unverständliche Verweis, dass es hierfür Spezialisten gäbe.

Stattdessen  die Behauptung aus der Pressemitteilung: „In diesen schwierigen Zeiten macht Pina Bausch Zentrum under construction sich mit Mut und Freude auf den Weg, ein neues gesellschaftliches Gemeinsam in Zeiten der Pandemie und des Lockdowns zu erforschen und nach neuen Freiräumen für die Kunst und den Tanz im 21. Jahrhundert zu suchen. …“

Wer auch immer die unzähligen „Streams“, ob „Live“ oder als Konserve, als Reaktion auf den Schock des ersten „Lockdown“ im März und April diesen Jahres verfolgt hat, weiss um die Sättigung einer möglichen Zuschauergruppe und die Herausforderungen, nicht nur an die technische Qualität, sondern an die Originalität und Übersetzungsstrategien des analogen Erlebens in den digitalen Raum, denn woran es den Menschen wirklich fehlt, ist Berührung, Körper, Wärme, Begegnungen.

Doch wie originell, innovativ, kreativ, sind denn Online-Tanzklassen mit aktuellen und ehemaligen Tänzerinnen und Tänzern des Ensembles, die in analoger Form ja bereits seit einiger Zeit zum „Programm“ des Tanztheaters gehören und seit Corona auch in digitaler Form? Wie originell sind die Formate der Panel-Diskussionen und Gesprächstreffen, deren Interesse sich ansonsten natürlich an den Themen und Gesprächspartnern festmachen lassen wird? Wie spannend werden denn die Beiträge derer sein, die Tanz als Konzept begreifen, wenn schon das Format der Präsentation via Hauswand-Projektion niemanden vom Hocker reissen wird?

Häuslesbauer?

Überhaupt die Auswahl der Tanz—Konzeptionisten, die bisher nicht gerade als „Häuslesbauer“ in Erscheinung getreten sind?

Vielleicht gibt uns der Originalton von Intendantin Bettina Wagner Bergelt Auskunft? – „Wir bauen zusammen ein Haus heißt: Wir bauen ein Haus, in dem wir uns treffen und uns miteinander beschäftigen, indem wir unsere Träume, unsere Vorstellungen von der Zukunft miteinander diskutieren und vielleicht in künstlerische Ergebnisse fassen können. Irgendwann, vielleicht aber auch nur in Diskussionen und Gespräche oder auch in Symposien diskutieren. Es gibt da viele, viele Formate in ihnen, die wir alle erprobt haben schon…Und ich glaube, dass all das uns genau da in die Mitte dessen führt, was in dieser ersten Ausgabe von Pina Bausch Zentrum „under construction“ Thema sein wird, nämlich ein niederschwelliger Zugang zu diesem Haus in dem Sinne, dass alle mitmachen dürfen, ohne sich zu überlegen. Wenn ich in dieses Haus gehe, ich dann willkommen sein soll, wie muss es dann aussehen? Wie stellt es sich mir vor. Und ich glaube, genau das wollen wir realisieren in diesem Pina Bausch Zentrum…“

Niederschwelliger Zugang

Aha, „… ein niederschwelliger Zugang zu diesem Haus in dem Sinne, dass alle mitmachen dürfen…“! Man muss nicht gleich an Soap-Operas denken, ob sich so aber eine internationale Strahlkraft erzeugen lassen wird? – Wir werden alle klüger sein danach. Vielleicht soll in der Veranstaltung ja auch ein Vorgriff auf das Beuys – Jahr 2021 gesehen werden, der ja postulierte, jeder Mensch sei ein Künstler?

Dabei verstecken sich in dem Programmangebot durchaus auch spannende analoge Begegnungen, wie etwa mit der Südafrikanerin Robyn Orlin, die mit Pau Aran Gimeno, Milton Camilo, Nazareth Panadero, Azusa Seyama, Julie Shanahan, Horst Wegener und Birgit Neppl, die die Kostüme entworfen hat in: „…we encountered ourselves on a walk, bumped into a spirit, who reminded us to start again…“ sich zu einem spirituellen Exorzismus und künstlerischem Forschen nach einer verborgenen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart aufmachen. Und fragen: Wie beginnen wir neu?

Oder auch der Beitrag der „People of Colour“, den man gespannt erwarten darf, ebenso wie Michael Carters und Gala Moodys Forschungsergebnisse mit Wuppertaler Schülern.

Collage Wie mag die Installation wohl aussehen©TANZweb.org

Collage Wie mag die Installation wohl aussehen©TANZweb.org

Potentiell substantiell

Dabei gab es auf der Pressekonferenz durchaus auch Substantielles zu hören, dessen Umsetzung tatsächlich ebenfalls mit Spannung erwartet werden darf, wenngleich sich diese auf viele Jahre erstrecken wird und die in ihrer Gestalt noch vollkommen offen zu sein scheint:

Salomon Bausch: „Ich habe den Wunsch, dass viele Menschen auf der ganzen Welt und natürlich auch in Wuppertal mit dem Werk von Pina Bausch eine Erfahrung machen können.

Und dabei denke ich natürlich einerseits an das Publikum, aber nicht nur. Ich denke dabei auch an diejenigen, die das tun, die das tanzen, weil ich glaube, auch für die ist das so was Besonderes, wenn es gut gemacht ist, dass es wirklich etwas mit diesen Menschen machen kann. Aber dass alle Gruppen, die das in Zukunft tanzen könnten, auch etwas Wertvolles an die Stücke zurückgeben,…“

Diese Aussage greift auf, was Salomon Bausch an anderer Stelle bereits artikuliert hatte, nämlich das Vorhaben, in den kommenden zehn Jahren alle Werke von Pina Bausch neu einstudieren zu lassen, solange die Weitergabe der Choreografien von einer Tänzerinnen Generation zur nächsten noch möglich ist und dabei auch neue Generationen von Probeleiterinnen heranzuziehen, die heute noch das Werk als nächste Generation bereits tanzen.

Dass die ursprünglich als Auftakt geplante Premiere von „Das Stück mit dem Schiff“ von Pina Bausch am 21. November nun als Aufzeichnung auf der Fassade des Schauspielhauses in Form einer Projektion zu sehen sein wird und diese „Installation“ wiederum in einem digitalen Beitrag vom zukünftigen Pina Bausch Zentrum aus gestreamt werden wird, zeugt jedoch nicht von dem vielproklamierten Mut, einen neuen Blick auf das Werk Pina Bauschs zu wagen. Vielleicht waren es auch Rechtefragen, die einen echten „Livestream“ verhindert haben, denn nicht einmal die Projektion auf das Schauspielhaus findet live statt, sondern ist eine, vermutlich bearbeitete, Konserve.

Der Realisierung des Pina Bausch Zentrums ist der Erfolg zu wünschen, sehr sogar! Die Anhänger des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch sind zahlreich und begeisterungsfähig. Gerade in Zeiten, in denen Vieles nur Behauptung ist, geprägt von Narzismus, Selbstbezogenheit und Eigeninteressen, nicht nur in der Politik, wächst einem Werk, das weit über das Ich hinausweist, eine immer grössere Bedeutung zu. Wenn es dann noch zu berühren vermag, etwas zum schwingen bringt von dessen Existenz sich der Einzelne vielleicht noch nicht einmal bewusst gewesen sein mag, Quantentheorie sich in -Physik verwandelt, durch erleben ohne denken, wenn also solche Erfahrungen entstehen, wird auch bleibendes Interesse erwachsen, das zur Nahrung wird.

Wir wünschen viel Interesse!

Das ganze Programm finden Sie HIER im Detail.

Grussworte | Statements

Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal

Wir freuen uns über den Mut und das innovative Potential von under construction, auch in Zeiten der Pandemie mit seinem Programm und digitalen Angeboten auf viele Menschen verschiedener Generationen und unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft zuzugehen. Ein online Format, das einfach nach Hause kommt, das Raum gibt, auch in schwierigen Zeiten, über eine andere Zukunft nachzudenken, gefördert durch das Land Nordrhein- Westfalen und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Wir freuen uns schon sehr, wenn bald das neue strahlende Pina Bausch Zentrum Raum für Kunst, Kultur, Begegnung, Kreativität und Diskurs sein wird.

Dr. Hildegard Kaluza, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Leiterin der Abteilung Kultur, in Vertretung von Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen

Für das Tanzland Nordrhein-Westfalen ist das Pina Bausch Zentrum mit seiner mehrgleisigen Ausrichtung eine großartige Bereicherung. Die Verbindung des international besetzten Ensembles des Tanztheater Wuppertal ebenso mit der Stadtgesellschaft wie mit einem Produktionszentrum für interdisziplinäre Bühnenproduktionen für Künstler*innen aus der ganzen Welt, mit dem Pina Bausch Archiv und dem umfangreichen Nachlass von Pina Bausch bietet hervorragende Voraussetzungen und wunderbare Herausforderungen – vernetzt mit internationalen

Kontexten – neue zukunftsweisende und nachhaltige Konzepte zu entwickeln.

Weitere Informationen zum Pina Bausch Zentrum

In dem zukünftigen Pina Bausch Zentrum, konzipiert als Zukunftslabor, sollen auf vielfältige Weise Erinnerung, Experiment, Kreativität, Wissensvermittlung, Reflexion und Beteiligung miteinander verschränkt werden. Dazu wird das zu renovierende ehemalige Schauspielhaus um einen Neubau erweitert, der im kommenden Jahr in einem Architekturwettbewerb ausgeschrieben wird. Das zukünftige Pina Bausch Zentrum wird inhaltlich auf vier Ebenen aktiv sein, die eng miteinander verschränkt und einander ergänzend entwickelt werden:

Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch erhält im Pina Bausch Zentrum eine neue Heimat, mit festen, eigenen Probenräumen und der Spielstätte, auf der ein Großteil der Werke von Pina Bausch entstanden sind. Ein Produktionszentrum bietet großen, genreübergreifenden Bühnenproduktionen aus dem In- und Ausland Raum und Gelegenheit für Uraufführungen, europäische und deutsche Erstaufführungen, Koproduktionen und Wiederaufnahmen,

nach den entsprechenden Endproben in Wuppertal. Das Pina Bausch Archiv macht den umfangreichen künstlerischen Nachlass von Pina Bausch zugänglich. Dadurch werden das vielfältige Material und das kostbare Wissen über dieses einmalige künstlerische Werk lebendig erhalten, um nachfolgende Generationen zu inspirieren und zu neuen kreativen Aktivitäten anzuregen. Das Forum Wupperbogen schließlich wird Zukunftslabor für die Entwicklung von Kulturinstitutionen sein, in denen die Themen und ästhetischen Formen partizipativer Projekte konsequent verfolgt und auf die gesamte Institution angewendet werden.

Der Bau des Pina Bausch Zentrums ist ein gemeinsames Projekt der Stadt Wuppertal, des Landes NRW und des Bundes.

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.pinabauschzentrum.de und https://under-construction-wuppertal.de/