Den Aufbruch wagen…. mit Wem und Wohin?

Beirat benennt zum dritten Mal innerhalb von fünf Jahren eine neue Künstlerische Leitung für das Tanztheater Wuppertal…. das noch „Pina Bausch“ im Namen trägt

ein Kommentar von Klaus Dilger

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Stünde diese Meldung im Sportteil wäre wohl klar, dass es sich hier um einen Traditionsverein mit grossen Abstiegssorgen handelt, der noch irgendwie mit neuem Personal gerettet werden soll. Möglichst spektakulär würde der Name des „Rettungs-„ Personals vermutlich ausfallen, in vielerlei Hinsicht und nicht zuletzt zum Selbstschutz der Vereinsbosse.

„Ein Weiter so kann es nicht geben…“, würden dann wohl alle in die Mikrofone sprechen, die sich bemächtigt fühlen oder als Experten „berufen“ wurden, darüber zu entscheiden, wie es denn dann… „Weiter gehen soll“.

Im schlimmsten Falle bliebe den Mikrofonrednern das „Mund abwischen“ und den Freundinnen und Freunden des Sports die Hoffnung auf den „Wiederaufstieg“.

Und im Tanz?

Wiederaufstiege sind im Tanz eher selten, aber auch ohne Punkte, Tore und Bestmarken, spielen nicht alle Compagnien in der gleichen Liga, um im Bild zu bleiben. Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch mit den Werken seiner Gründerin, spielt zweifelsohne noch immer in der Champions-League, Pardon, gehört (noch) zu den am meisten beachteten Compagnien der Welt.

Der Erhalt dieses Ansehens und des Werks war bisher die allererste Aufgabe und Sorge einer jeden Weichenstellung in die Zukunft, schliesslich verdankt das Wuppertaler Tanztheater seinen Weltruf ausschliesslich dem Werk seiner Gründerin und der Tatsache, dass nur hier, mit diesem Ensemble, Pina Bauschs Stücke auf solch hohem künstlerischen, technischen wie authentischem Niveau auf die Bühne gebracht, getanzt, mit Leben und Sinn erfüllt werden, um anschliessend ein Publikum in der ganzen Welt zu begeistern. Ein Erbe, das bis heute von einem einzigartigen Mehrgenerationen-Ensemble, mit Künstlerinnen und Künstlern, die diese Werke mit geschaffen und weiter gegeben haben und sie teilweise noch immer tanzen, auf höchstem Niveau lebendig erhalten wird. Herausragend im Vergleich mit den besten Compagnien auch die Bühnenwelten von Rolf Borzik und nach dessen frühem Tod die von Peter Pabst, sowie in der Nachfolge von Borzik, die Kostüme einer Marion Cito, die den tanzenden Körpern beinahe immer weitere, sinnliche Dimensionen zu verleihen vermochte.

Diese oft einzigartigen und weit in die Zukunft weisenden (Gesamtkunst-) Werke und deren DNA mit einer neu zu schaffenden Tanzsprache weiter zu entwickeln, dazu mit diesem, einem Ensemble, das in der Lage sein würde sowohl die ikonografischen Werke einer Pina Bausch, als auch neue Choreografien auf höchstem Niveau zu tanzen und zu interpretieren, stellte schon in der Vergangenheit eine Herausforderung dar, für die nur wenige die künstlerische Kraft, das nötige Selbstbewusstsein gepaart mit Respekt und Bescheidenheit und eine künstlerisch herausragende Vision aufzubringen vermögen. Daran sind die beiden Vorgängerinnen, beide Kuratorinnen und keine Künstlerinnen, rasend schnell gescheitert, was die Suche zusätzlich dramatisch erschwert haben dürfte.

manger_Boris Chamatz©ursula_kaufmann

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Auch nicht im dritten Anlauf…

Wenn es denn also niemanden gibt, um es populär verständlich zu machen, der in der Lage ist, auch nur die bisher geforderte Qualifikationshöhe zu überspringen, wird die Messlatte an die Bewerber und Bewerberinnen offensichtlich immer weiter nach unten gesenkt. Dann wird ein „Ein Weiter so kann es nicht geben…“, peu à peu zur neuen Maxime, weil die Tänzerinnen und Tänzer endlich von einer Künstlerpersönlichkeit geleitet werden wollen und wenn es ganz schlimm kommt, der spektakuläre Coup mit dem Namen des Führungspersonals wichtiger als die Eignung für diese ganz spezielle Aufgabe.

Auf der heutigen Pressekonferenz klang dies oberflächlich betrachtet ganz anders, nämlich genauso wie auf den beiden vorangegangenen Pressekonferenzen zum gleichen Thema, allerdings mit wechselnden, angeblich immer einstimmig gefundenen Personen und dennoch bekanntem Ausgang. Eine Einstimmigkeit in den Findungsgremien, nicht jedoch im Ensemble, wie man hinzufügen muss.

Manchester, UK – July 3rd, 2017: Boris Charmatz at the location for his new show ‚10,000 Gestures’, debuting at Manchester International Festival 2017. CREDIT: Duncan Elliott for The New York Times

Boris Charmatz soll ab 2022 die Geschicke leiten

Mit Boris Charmatz ist der Findungskommission zweifelsohne ein solcher Coup gelungen, der seinen ersten WOW-Effekt vor allem der Überraschung verdankt, denn die bisherigen Arbeiten und Statements des französischen Konzeptkünstlers und Vertreters der europäischen „Null-Tanz-Bewegung“, ähnlich wie Xavier leRoy und Jérôme Bel, sind den Arbeiten einer Pina Bausch diametral in beinahe allen Belangen entgegengesetzt, inhaltlich, künstlerisch, ästhetisch, strukturell, menschlich, Werte betreffend.

Nur schwer vorstellbar, dass die Tänzerinnen und Tänzer, die teilweise noch noch mit Pina Bausch gearbeitet haben, in einer der Arbeiten von Boris Charmatz auf der Bühne herumkrabbeln, oder nach dessen Philosophie, auch auf der Strasse oder im Grünen, „nackt im Regen“, wie Charmatz es sich gestern auf der Pressekonferenz erträumt.

Damit verbindet sich keine Wertung, wenngleich die eigenen Erinnerungen an dessen Arbeiten und Konzepte, mit Ausnahme vielleicht von „enfant“, wegen der Langweiligkeit und Durchsichtigkeit seiner Plots, eher vage im Gedächtnis verhaftet sind.

Dort wo Pina Bausch mit dem Tanz eine Sprache für das Leben finden wollte, benutzt Charmatz sehr eloquent Worte, um erstens über sich und zweitens über sich und seine Konzepte von Tanz zu sprechen. Zwischen Bausch und Charmatz liegen bei genauer Betrachtung Welten.

Worin besteht also die Übereinkunft, die vielleicht fünf Jahre halten soll, zwischen Arbeitgeber, neuem Führungspersonal und dem Ensemble?

Tänzerinnen und Tänzer suchen sich die Compagnien nach den Gesichtspunkten aus, wie und mit wem sie arbeiten wollen und welches Repertoire sie gerne tanzen würden. Choreografinnen suchen sich Tänzerinnen und Tänzer, mit denen sie inspiriert ihre Visionen umsetzen können und Arbeitgeber suchen diejenigen, mit denen sie den meisten Erfolg für ihre Ziele erwarten können.

Charmatz hat dies indirekt auf der Pressekonferenz eingeräumt und sich bereit erklärt, ein solches beiderseitiges Risiko einzugehen, auch wenn er die Frage nicht beantwortet hat, was denn nun passieren würde, wenn Tänzer_innen ihm die Gefolgschaft verweigern würden.

Auch die Frage , ob er, dem der Ruf voraus eilt, sich selbst am Besten zu vermarkten, denn bereit sei, ab jetzt für die nächsten fünf Jahre in der Marke „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch“ aufzugehen, konnte oder wollte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten.

Vielleicht bedeutet die gestern vage formulierte Idee eines deutsch-französischen Ensembles und einer engen Kooperation zwischen den Regionen Nordrhein-Westfalen und Hauts de France, ja auch das Hintertürchen, durch die eine der bisherigen Hürden für Bewerber_innen hinausgeschmuggelt wurde?

Nicht nur diese Frage konnte gestern aus zeitlichen Gründen nicht mehr gestellt werden.

Wohl selten gab es jemals eine Pressekonferenz, bei der die Podiumsteilnehmer derart berauscht schienen von den eigenen, aber mehr noch von der überwältigenden Dichte der Worte des zukünftigen künstlerischen Leiters des Tanztheaters, wie auch immer es in Zukunft dann wirklich heissen mag.

manger_tate_brothertonlock

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Es wäre schöner mit zu feiern, gäbe es da nur nicht diesen Wald aus Fragezeichen…

Gefühlt war jedes Dritte Wort der auf deutsch verlesenen Erklärung ein wichtiger Name aus der Tanzgeschichte, mit dem sich Charmatz so assoziierte, was eine Kollegin später mit einer ganz simplen Frage offenlegte, die den designierten Intendanten erstmals gehörig aus der Fassung brachte: Sie fragte, warum er Frau Bausch immer Pina nenne und ob er sie denn persönlich kannte, was er verneinen musste…

Eine der wirklich drängenden Fragen, die alle spätestens dann beschäftigen wird, wenn der Rausch verflogen ist, wurde nicht mehr beantwortet, stattdessen wurde von Oberbürgermeister Uwe Schneidewind nach genau einer Stunde die Konferenz für beendet erklärt: Die Frage an Frau Milz und Herrn Fragemann von der Findungskommission, weshalb sie denn nach den Erfahrungen rund um Adolphe Binder, die die Compagnie und Belegschaft in zwei Teile zerrissen hatte, erneut  einen Vorschlag präsentieren, der die Compagnie und Belegschaft ein weiteres Mal zerreissen wird und welche Absicht dahinter steckt, bzw. welche Konsequenzen damit in Kauf genommen werden und weshalb?

Kritisch fragender und unabhängiger Journalismus, der die Feierlaune hätte stören können, schien an diesem Tag nicht wirklich erwünscht gewesen zu sein. Dabei schreien die Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre geradezu nach Sorgfalt, um alle Beteiligten in Vorsorge zu schützen, auch Boris Charmatz, der die Frage, welche Freiheiten und Rechte für seine Visionen ihm denn vertraglich zugesichert wurden, unbeantwortet liess.

Stadtkämmerer Dr. Slawig hätte gefragt werden können, wie intensiv er sich denn auf das Engagement von Boris Chamatz hat vorbereiten können, ehe er erneut einen Fünfjahresvertrag abschliessen will,. Er war nicht einmal auf dem Podium vertreten, dabei hatte er nach der desaströsen und teuren Vertragsauflösung rund um Adolphe Binder, die zum Teil mit entsprechender Vorabrecherche vorhersehbar gewesen wäre,  in einem Interview erklärt, dass er einen solchen Vertrag nicht mehr ohne eine Ausstiegsklausel unterzeichnen würde.

Gibt es eine solche Klausel bei Herrn Charmatz und war dieser damit einverstanden?  … oder spart der Kämmerer schon?

Kritisch zu fragen bedeutet nicht, den Beteiligten Schlechtes zu wünschen, ganz im Gegenteil – Dies betonen zu müssen sagt sehr viel aus über unsere Medienlandschaft aber auch die wachsende Kritikunfähigkeit der Entscheider, die verlernt haben zuzuhören und sich in Frage zu stellen, um ihren Aufgaben gerecht werden zu können.

Andere Meinungen:

Elisabeth Nehring im Deutschlandfunk – HIER

Wiebke Hüster in der FAZ – HIER

Dorion Weickmann in der SUEDDEUTSCHEN – HIER

Jean-Marc Adolphe in Les Humanité – HIER

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Levée des conflits, Boris Charmatz, Rennes, Gabily, 30 septembre et 1er octobre 2010