Das Tanztheater Wuppertal mit Pina Bausch Doppelabend CAFÉ MÜLLER | DAS FRÜHLINGSOPFER und dem Sinfonieorchester Wuppertal
Nachtkritik von Klaus Dilger
„Es wird immer das Stück bleiben, in dem sie am meisten fehlt und zugleich: am stärksten spürbar ist. Das 1978 entstandene „Café Müller“, in dem Pina Bausch noch im Jahr vor ihrem Tod selbst mittanzte. Seit jeher wird es im „Doppelpack“ mit ihrem drei Jahre früher uraufgeführten „Frühlingsopfer“ gezeigt. Intim-individuelles Tanztheater und kollektiv-ekstatischer Ritualtanz. Bei der aktuellen Wiederaufnahme schien sich im „Café Müller“ ein weichzeichnender Schleier über die Trauernden und Liebenden gelegt zu haben. Schön – und entrückt. Das archaische Ensemblestück hingegen hat nichts von seiner brutalen Kraft verloren. So gab es – wie immer – standing ovations in der – wie immer – ausverkauften Oper….“ mit diesen Worten begann unsere Nachtkritik im Februar 2017 von Nicole Strecker, die natürlich wusste, dass sowohl „Café Müller“, als auch „Das Frühlingsopfer“ ursprünglich jeweils Teile von zwei mehrteiligen Tanzabenden gewesen sind, die gefühlt „seit jeher“ zusammen gehören. Zusammen gehören, weil sie das Leben aus zwei vollkommen gegensätzlichen Perspektiven betrachten und sich in Übereinkunft befinden, was die Bedeutung von Schicksal betrifft und der nicht enden wollende Kampf um dessen Überwindung.
Nicht zuletzt die zeitgleich stattfindende Ausstellung der Pina Bausch Foundation „40 Jahre Café Müller“ im ehemaligen Schauspielhaus und zukünftigen Pina Bausch Zentrum, die am Premierentag der Wiederaufnahme eröffnet wurde, bietet Anregung und Impulse für die Erforschung der Wandlungen dieses 1978 entstandenen Stückes. Auch die Suhrkamp Film-Produktion des Stückes unter Regie von Pina Bausch aus dem Jahr 1985, die im Internet frei zugänglich ist, macht deutlich, wie fragil und schwierig die Transmission der Kunst der Choreografinnen-Ikone ist, weil sie Zeit(en) und Spannung(en) berührt, die über die oberflächliche Wiedergabe einer Bewegung weit hinausgehen. Nur wer weiss woher eine Bewegung kommt, kann diese auch äusserlich und innerlich synchron mit anderen Tänzerinnen im Raum so erzeugen, dass eine tiefere Bedeutung, dass eine „Sprache für das Leben“, wie Pina Bausch sie gesucht hatte, entstehen und erfahren werden kann. Diese zu vermitteln, ist eine der vornehmsten Aufgaben des Drei-Generationen-Ensembles Tanztheater Wuppertal und eine grandiose Chance für die internationale Welt des Tanzes und des Tanztheaters. „Es kann viele „Café Müllers“ geben“, darauf hat Salomon Bausch in seiner Eröffnungsrede der Ausstellung verwiesen und auch wie spannend das Lesen der Gegensätze zum Original sein könnte, besonders in einem dafür prädestinierten Pina Bausch Zentrum in Wuppertal.
Wir können als Zuschauer nur erahnen, wie fragil das Gleichgewicht aller Elemente sein muss, das eine solche Aufführung im Sinne der Choreografin wieder und wieder lebendig erlebbar werden lässt. Nur ganz selten und nur an ganz bestimmten Orten und unter ganz bestimmten Voraussetzungen hatte Pina Bausch es daher zugelassen, dass ein Orchester Teil dieser Balance wird, wie etwa im Jahr 2003, als Gérard Mortier und Pina Bausch, unterstützt von Peter Pabst, im Rahmen der Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle Bochum “Café Müller” mit Orchester und Sängern und auch “Le Sacre du Printemps” mit Orchester gezeigt haben. (und darüber hinaus auch einmal in New York anlässlich eines Gastspiels)
Nach Pina’s Tod im Jahr 2009, hat das Tanztheater Wuppertal im Jahr 2016 auf Einladung des Théâtre Nîmes in der Arena “Café Müller” mit Orchester und Sängern gezeigt.
„Le Sacre du Printemps“ wurde dann in Wuppertal zum ersten Mal mit Orchester im Mai 2014 im Rahmen von PINA40 aufgeführt (danach nicht mehr) und nun erneut, dieses Mal im Verbund mit „Café Müller“ (mit Orchester und Sängern).
Pina Bausch und das Tanztheater hatten sich schon sehr früh mit ihrer Arbeit emanzipiert und machten, nachdem in den frühesten Anfängen das Orchester sich auch nicht sonderlich kooperativ mit der „Tanzrevolutionärin“ gezeigt hatte, daraus eine Tugend und „schütteten“ sämtliche “Gräben zu Orchestern” zu und überwanden damit nicht nur die Distanz zu ihrem Publikum, sondern auch die lange als nachrangig bewertete Rolle des Tanzes gegenüber der Musik. Pina und ihr Ensemble gehörten zu den Ersten, die den Tanz und seine Kraft nicht nur an die Bühnenrampe, sondern mitten in das Publikum hinein getragen haben.
Nun also das Experiment, ob ein Orchester den Aufführungen von zwei der Signatur-Stücke Pina Bausch’s, die Viele nur im musikalischen Zusammenspiel mit den Einspielungen der Weltbesten kennen, im Wuppertaler Opernhaus neue Intensität verleiht.
Das Wuppertaler Sinfonieorchester unter Leitung von Henrik Schaefer spielte Henry Purcell’s Musik in der dafür vorgesehenen kleinen Besetzung ansprechend und Marie Heeschen konnte mit ihrer schönen Sopranstimme ebenso überzeugen wie Lukas Jakobski mit seinem Bass. Nur, – dort wo mittels Einspielungen die Musik und der Gesang sich hauchzart, wie aus einer anderen Welt kommend, mit dem Bühnengeschehen verweben konnte, ertönten diese nun aus dem Abgrund der den Tanz vom Publikum trennte, physisch präsent und sichtbar in ihrer asynchronen Platzierung im Orchestergraben. Pina’s surreale Magie in „Café Müller“, die Ahnung dessen, wen oder was die Tanzenden darin bedeuten, nahm Schaden im Empfinden des Rezensenten.
Dies gilt umso mehr für “Das Frühlingsopfer“: Da war plötzlich ein Riesenloch (im Wortsinn in Form des Orchestergrabens) zwischen Tanz und Publikum und ein Sinfonie-Orchester, das in seiner Besetzung selten genug das klangliche Volumen und die Energie für Strawinsky’s „Le Sacre du printemps” erzeugen konnte, um die Tänzer*innen (und auch das Publikum) mitreissen zu können.
Die Tänzer wirkten teilweise gehemmt und unsicher, sei es, weil sie es nicht gewohnt sind mit der ihnen sonst eigenen Vehemenz an den Orchesterabgrund zu tanzen, sei es auf Grund des fehlenden Volumens, dass sie eventuell zum “mitzählen” der schwierigen und sehr komplexen Rhythmen der Strawinsky Musik gezwungen hat, wo sie sich sonst auf ihren Instinkt verlassen konnten, sei es weil sich ein Tänzer bei den Proben verletzt hatte und Michael Strecker in den Endproben für ihn einspringen musste, sei es, weil viel zu viele Positionen in viel zu kurzer Zeit neu besetzt wurden, teilweise mit Tänzer*innen die sichtbar nicht mit der Sprache Pina Bausch’s vertraut sind, wie dies zu Beginn des Artikels angedeutet wurde. Das Ergebnis war trotz der physischen Hingabe und des Einsatzes der Tänzer*innen weit entfernt von dem Werk der Choreographin, von dem alles durchdringenden Geist ihrer Bewegungs-Sprache, von einem homogenen Ensemble, das wie in Trance und ständiger innerer Bewegung, wie es Pina Bausch gefordert hat, diesem überwältigenden Ritual bis zum bitteren Ende ausgeliefert ist. Von all dem war an diesem Abend wenig zu spüren. Hätte Tsai-Chin Yu in der Rolle des Opfers nicht am Ende so grandios getanzt, dass sie die Menschen förmlich von den Stühlen gerissen und gleichzeitig zu Tränen berührt hat, das Publikum wäre an diesem Abend freundlich klatschend sitzen geblieben.
Appendix: Die Berliner Zeitung behauptete in einem Artikel von Michaela Schlagenwerth, “pünktlich” am 1.November erschienen, einmal mehr in einem ebenso tendenziösen, wie schlecht recherchierten Artikel der ehemaligen Intendantin, Frau Binder, zur Seite springen wollend: “Zum Jubiläum wird es (Café Müller) erstmals unter der Leitung von Henrik Schaefer mit Live-Musik aufgeführt. Dies wird vermutlich dem Stück noch einmal zusätzliche Intensität verleihen. Entwickelt hat das Konzept die geschasste Intendantin…”.
Wenigstens in diesem Punkt wollte die Rezension sachlich richtig stellen, ohne zu hinterfragen, wie Frau Schlagenwerth zu ihren Behauptungen gekommen ist.