Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch zeigt „Masurca Fogo“ aus dem Jahr 1998
Kritik | Nachtkritik von Melanie Suchy
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Jaaaa, am Ende überschwemmt der Kitsch die Bühne des Opernhauses. Ein Popsong der frühen 1970er seift das Herz ein, „All I Need is the Air That I Breathe (to Love You)“, der singt von love und peace, während unmäßig riesige Blumen per Filmprojektion in Zeitraffer aufblühen, eine, noch eine, noch eine, ein endloses Werden, Wachsen, Entfalten in Schönheit, also Luft. Das ist so gigantisch, die visuelle Sinnlichkeit so aufdringlich, dass es, um Kunst zu sein, einen doppelten Boden haben muss. Es ist das Sterben. Während nämlich die Videoblüten nie verdorren, liegen auf der Bühne die Tänzer, reglos geworden. Wie müde getanzt oder wie tot. Hinter ihnen füllt immer noch schwarz und schlammförmig dicke Lava den Raum. Die ist gefährlich, wenn sie glüht und aus Vulkanen quillt, aber wird bester Boden für Gewächse, ob geträumt oder aus Samen entsprungen.
Dieses eigenartige Bühnenbild von Peter Pabst scheint ein erstarrtes Strömen darzustellen, das entweder in einen sauber weißen, musealen Raum eingedrungen ist oder von ihm domestiziert wird: flüssig gewordenes Gestein aus dem Innern der Erde. Diese Idee, die Hitze aufzutreiben und herauszutreiben, diese Lustfeuerchen der Menschen, und immer auch zu zeigen, auf welche Weise diese eingehegt werden oder erstarren und erkalten, sie grundiert vielleicht „Masurca Fogo“. Das Stück selber bleibt auf dem Boden damals bewährter inszenatorischer Mittel, es strengt sich nicht an, besonders zu beeindrucken. Dieser leise immanente Zweifel am Was-Wie-Wohin macht es sympathisch. Ein schönes Wiedersehen.
Farbexplosionen
Auffällig sind jene Videos, die ebenfalls Peter Pabst ausgesucht hat und die manchmal auf eine heruntergelassene Leinwand, doch meist auf die gesamte Bühne projiziert werden: Sie überschwemmen sie mit leuchtendem Gelb, Rot, Grün, Blau, Braun. Sie verdunkeln, sie stören, sie stehen für den faszinierten Blick aufs Exotische, den man kritisieren kann, der sich hier aber auch selber in Frage stellt, indem eben nicht allzuleicht konsumierbare hübsche Häppchen präsentiert werden. Die Filme zeigen eine kleine Band auf den Capverden, namenlose Gesichter, Reisende in einer Bahn, vorübereilende Landschaft, Flamingobeine, einen Vogelschwarm am Himmel, gegen Ende das Meer, tosende Wogen. Wie zu Beginn die handgemachte Musik aus dem Film tatsächlich zu hören ist, bis sie ausgeblendet und abgelöst wird von vielerlei schönen Konservenaufnahmen (Fado, Jazz, Tango, Schubiduh, viel Moll), kehrt diese direkte Verbindung von Bild zu Bühne am Ende zurück mit Meeresrauschen und Möwenrufen. Und der Lavahaufen wird inmitten des bewegten Wassers zur Insel.
Mitte und Ränder
Dieses romatische Bild der Einsamkeit oder Hoffnung und Widerständigkeit hat Pina Bausch in Gesellschaft ihrer Tänzer 1998 von der Reise nach Portugal mitgebracht. „Masurca Fogo“ entstand im Auftrag der EXPO in Lissabon und des Goethe-Institutes; man schaute sich dort im Süden Europas um und schloss die koloniale Verbindung nach Brasilien, am Carnevals-Samba zu hören, und zu den Capverdischen Inseln mit ein. Ein dort gefilmter nächtlicher Tanzwettbewerb, der Paare in halbenger Berührung mit erstaunlich winzigen Schritten zeigt, hat vielleicht den wiederkehrenden innigen Paartanzmoment auf der Bühne (einmal auch im Zuschauersaal) inspiriert: wenn je ein Mann und eine Frau, an Schulter und Hand sich fassend, kurze seitliche Schiebeschritte machen mit gebremstem Hüftschwung. Dabei sind die Füße zu hören, die aufsetzen und schleifen, „tumm-scht-scht, tumm-scht-scht“. Das ist ja nun das Gegenteil von „feurig“, „Fogo“. Doch wie die je zwei miteinander in den winzigen Wellen dieses Tanzes versinken, hat eine Menge Wärme. Vielleicht in Erinnerung oder Erwartung explosiver Hitze. Sex.
„Good-bye, woher kommen Sie“?
Die entsprechenden Anspielungen sind, in bewährter Manier und in gerade noch erträglicher Dosis, auch ins Stück gestreut: von Ruth Amarantes tief-seufzendem „Aaah, aaah“ und anderen, eher kreischenden Orgasmus-Soundimitationen, über die in einer schaumgefüllten Wanne mit ihrem Geschirr badenden Ophelia Young und deren wiederholtem Verführungslächeln mit knallrot geschminktem Mund, bis zu einem Paar am Boden, wo die Frau sich auf den Mann rollt. Ein gelüpfter Kleidersaum. All die Blüten am Ende. Doch zwischendurch auch bittere Momente, etwa wenn eine Gruppe Männer die nur in rote Luftballons gekleidete Julie Shanahan sozusagen defleurieren mit ihren Zigaretten: ein Knall, viele Knalle. Oder wenn Andrey Berezin auf Plateauschuhen und im majestätischen Kleid zwei Frauen und zwei Männer wie Kinder oder Untertanen einander zuführt und als Riesin den Paartanzpart des Mädchens kurz übernimmt, „so geht das“. Die stummen, steinernen Mienen und das Minimale an Bewegung mit darunter loderndem maximalem Drama erinnern an beste Kurt-Jooss-Schule und an dessen „Tod einer Infantin“.
Unterdrückung, Übermut
Doch das Aussichheraustanzen bietet das Inselleben von „Masurca Fogo“ ebenso – neben Kurzszenen an Tischchen, mit Stühlen und Tassen, balancierten Plastikschüsseln, Publikumsansprachen, spielerischen Albernheiten wie Nixenschwimmunterricht, Lockenkonkurrenz, juchzendem Plantschen in einem Pool aus hochgehaltener Plastikfolie, neben blamablen Geschichten aus der Kindheit, Gelächter; plus einem lebenden Huhn, das nur am Arm einer Tänzerin fliegen kann und einem Gummiwalroß, das sich mit winzigen Schritten, den erwähnten Paartänzen nicht unähnlich, über die Bühne schiebt, eine kleine Verwandte des „Arien“-Nilpferds. Die hier aber unbeachtet bleibt. Ungeliebt. Die Solotänze also unterscheiden die Menschen deutlich vom Tier (oder, im Grunde, auch nicht), sie heben ab, sie komplizieren ihre Muster, wiederholen sich, genügen sich selber, umarmen die Welt oder rufen nach Umarmung.
Gleich zu Beginn stürmt Rainer Behr wie ein Vulkankobold die Bühne, greift aus, verdreht sich, streckt sich wie ein Bogen, schaut hoch, wirbelt, schaufelt Luftmassen her zu sich, verzögert kurz, bricht wieder los, und er spricht zum Boden, mit einer Hand, mit beiden, dann auf allen Vieren. Das Drauflos ist seit Jahrzehnten typisch für seinen Tanz, und er hat es sich bewahrt. Nicht allen gelingt diese scheinbare Mühelosigkeit beim Erwecken ihrer eigenen wendigen Kreationen von 1998. Die Jüngeren wiederum müssen bei den erlernten Solo-Einlagen nun an die meist kraftvoll-elegante brustkorböffnende Luftigkeit samt Hingabe ans Herzgefühl, eine Art des (vielleicht nicht mehr modernen?) Fallenlassens herankommen, die etliche der „Alt“-Wuppertaler auszeichnet. Wer, wie diese, an der Essener Folkwang-Universität ausgebildet wurde, hat da einen Vorteil: Ophelia Young und Julian Stierle machen ihre Sache super. Doch auch Jonathan Fredrickson, der in Kalifornien studierte, und andere machen mehr als gute Figur. Wobei diese Solos, welche die Tänzer von 1998 für sich entwickelt hatten, auch unterschiedliche Charaktere haben und einige ein eher tappendes Suchen am eigenen Körper und in der Welt, „nach hier? nach dort?“, auszudrücken scheinen.
“All the animals I had, died.”
Neun der Tänzer und Tänzerinnen der Ursprungsbesetzung sind noch dabei, zehn sind neu und haben teilweise eben auch die Solos übertragen bekommen, sind in eine andere Haut geschlüpft, die ja viel mehr ist als Haut. Die Tänze also werden zur Choreographie, extrahiert und dann wieder angetan und angefüllt von einer anderen Person. Ob sie dabei wieder Leben und Sinn gewinnen oder wie die Felle toter Tiere an ihnen baumeln (ein auch hier wiederkehrendes Bausch-Motiv: die Pelzmäntel an Frauen), das ist einer der Faktoren beim Gelingen der Wuppertaler Wiederaufnahmen. „Masurca Fogo“, das im Oeuvre von Pina Bausch nicht spektakulär herausragt, hat in dieser Hinsicht bislang wenig verloren.
P.S. für die Kettenraucherin Pina B.: Noch ein Zigarettchen
Passend zum Gedanken an ehemalige oder kommende Vulkanausbrüche, ans Feuerspeien und Ascheregnen, bekommen auch die Zigaretten in diesem Stück, vervielfacht durch gleich mehrere Songs mit cigarettes im Text, eine neue Konnotation: als Minifeuerchen mit Rauch an Menschen, als Lust und Katastrophe.