„Wozu treibt uns die Liebe?“

Wuppertal blickt mit Pina Bauschs „Orpheus und Eurydike“ zurück in die Welt der Toten

von Rico Stehfest

Da sitzt sie, still und reglos auf einem jener überdimensioniert hohen Stühle, madonnengleich ganz in Weiß mit einem Strauß roter Rosen im Schoß. Eurydike ist tot. Pina Bausch hatte sich 1975 in ihrer vertanzten Oper „Orpheus und Eurydike“ mit der Musik von Christoph Willibald Gluck nicht erst mit einem tödlichen Schlangenbiss aufgehalten. Pina Bausch hat zeitlebens jeden Kern entkernt. Und dabei ist es bis heute geblieben. Das Tanztheater Wuppertal hat eine unveränderte Fassung auf die Bühne gebracht und bietet so einen Blick in die Vergangenheit, der, wie in jedem Fall, die Zeitlosigkeit von Pina Bauschs Arbeiten auch hier unmissverständlich klar macht. Deshalb braucht es über die Qualität dieser Choreografie auch keine weiteren Worte mehr. Das Ensemble zeigt eine starke Gesamtleistung, in der jede einzelne Partie zentrierte Eigenständigkeit beweist, die nirgendwo Lücken erkennen lässt.

@TANZweb.org_Klaus Dilger

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Emotionale Abwesenheit

Das Sinfonieorchester Wuppertal unter der Leitung von Michael Hofstetter führt entspannt den Opernchor der Wuppertaler Bühnen durch die Unterwelt, in der Orpheus (Tanz: Pau Aran Gimeno) vergeblich seine verlorene Liebe Eurydike (Tanz: Daria Pavlenko) aus dem Reich der Schatten zurückholen will. Die doppelte Besetzung der Hauptpartien mit Tanz und Gesang und ihre parallele Präsenz auf der Bühne funktioniert noch immer ausgesucht harmonisch. Vom ersten Moment an liegt die Schwere der Trauer über allem, die Orpheus hilflos und orientierungslos hat werden lassen. Als ehemaliges, langjähriges Mitglied des Pina Bausch Tanztheaters ist Pau Aran Gimeno umfassend mit der choreografischen Handschrift vertraut. Allerdings hatte Bausch wiederholt betont: „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern, was sie bewegt.“ Unter dieser Prämisse erscheint dieser Orpheus weniger bewegt als man erwarten dürfte. Seine augenscheinliche emotionale Abwesenheit zeigt sein Leid nur an der Oberfläche. Seine Verständnislosigkeit angesichts des Todes Eurydikes, seine Verzweiflung, all das scheint in der Interpretation wie das Empfinden eines Mannes, der zu jung ist, um die Komplexität des Traumas Tod zu erfassen. Davon überwältigt zeigt er sich aber genauso wenig. Das spricht nicht ausreichend zum Zuschauer. Damit ist er sogar emotional näher an der kindlichen, unbeschwerten Leichtigkeit Amors (Tanz: Emily Castelli), hier alles Lebendige, Bejahende verkörpernd, als der tragischen Geliebten. Dass er sich mit dem Verlust nicht abfinden will, verleiht ihm auch keine Zielgerichtetheit seiner Energie.

rpheus-und-Eurydike_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Orpheus-und-Eurydike_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Überzeugende Tiefe

Ganz anders fällt Daria Pavlenkos Eurydike aus. Ihre überzeugende Tiefe braucht fast gar nicht erst die große Geste der ausdrucksstarken Choreografie. Ihre Präsenz und ihr würdevolles Leiden zeugen von einem tiefen Bewusstsein und dem Verständnis um die Ausweglosigkeit ihres Endes. Orpheus Verlorenheit ist Leere, die nicht als solche zum Ausdruck kommt. Er hangelt sich von Moment zu Moment, überzeugt dabei aber nicht als Suchender. Sie ruht tief in sich, versöhnt mit dem schmerzvollen Verlust. Eurydike ist bereits viel weiter, als dieser Orpheus erkennt. Das alles zeigt sich geballt allein im Blick Pavlenkos in jenem Moment, in dem Eurydike Orpheus in den Gärten der seligen Gefilde nach ihrem Tod wiederbegegnet. Dieser ist von einer solchen stillen Wucht und Komplexität, dass es keiner Bewegung braucht. Reglos steht sie da und blickt in seine Richtung. Ihre Zuneigung zeugt von Reife. Seine Angst vor der grausamen Prüfung, Eurydike nicht anblicken zu dürfen, um sie retten zu können, schwächt ihn. Wenn dann Eurydikes Zweifel an Orpheus‘ Zuneigung angesichts dessen scheinbarer Ablehnung immer größer werden, zittern irgendwann sogar ihre Füße unter dem Saum des langen roten Kleides. Ihre Todessehnsucht ist Gewissheit: Dieser Orpheus ist nicht in der Lage, sie zu retten. Vielleicht ist das die eigentliche Tragik.

Orpheus-und-Eurydike_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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