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Wiederaufnahme beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch:

„… como el musguito en la piedra, ay, sí, sí, sí …”

anlässlich der zehnten Wiederkehr des Todesjahres der großen Choreografin

Nach(t)gedanken von Klaus Dilger

„… como el musguito en la piedra, ay, sí, sí, sí … (Wie das Moos auf dem Stein)  heißt das letzte Stück von Pina Bausch, das kurz vor ihrem Tod fertiggestellt wurde und das  von Chile handelt, – aber wohl nicht nur.

Vielmehr scheint die Begegnung mit der chilenischen Kultur und wie die Menschen dort mit ihrer Gesellschaft, ihrem Miteinander umgehen, ungeachtet einer noch längst nicht bewältigten jüngeren Vergangenheit, die von den Gräueln der Militärdiktatur Pinochets gezeichnet wurde, die Choreografin und ihre Tänzerinnen und Tänzer ganz zu sich selbst geführt zu haben.

Umso mehr als die Visionärin, die Pina Bausch nun eben auch stets gewesen ist, um ihren nahen Tod gewusst oder zumindest geahnt haben muss. Das Gleiche gilt wohl auch für die Tänzerinnen und Tänzer.

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Großartiges Stück

Vielleicht ist es dieses Wissen, das hier in seiner tänzerisch, choreografischen Fülle, in der Verbindung mit tiefster Menschlichkeit und liebevoller Zugewandtheit, eines der großartigsten Stücke des Ensembles hervorgebracht hat.

Eine bessere Wahl zum Beginn der neuen Spielzeit des Wuppertaler Tanztheaters und dem Gedenken an die große Choreografin, anlässlich des zehnten Todestages, hätten die Verantwortlichen nicht treffen können, dies gilt auch für die Besetzung des Stückes, die in vielen Besprechungen heutzutage bestenfalls, wenn überhaupt, zum Schluss zur Sprache kommt. Hier soll es aus gegebenem Anlass anders herum sein:

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Pina Bausch Chile Stück  TSAI-CHIN YU UND JONATHAN FREDRICKSON©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Herausragende Tänzerinnen und Tänzer

Was für ein Glück, dass es gelungen ist, neben so hervorragenden Tänzern und prägenden Figuren wie Damiano Ottavio Bigi, Fernando Suels Mendoza und natürlich Dominique Mercy, die der Compagnie leider nur noch, wenn auch oft, als Gäste angehören, auch das brasilianische Energiebündel Morena Nascimento, die die Compagnie nach dem Tod von Pina Bausch verlassen hatte, zurück zu holen und die wundervolle Clémentine Deluy, endlich wieder tanzen zu sehen, nachdem sie zuletzt bei Sasha Waltz mitgewirkt hatte. Sie alle haben dieses letzte Stück mit entwickelt und geprägt. Ebenso wie Pau Aran Gimeno, Silvia Farias Heredia, Ditta Miranda Jasjfi, Nayoung Kim, Azusa Seyama und Tsai-Chin Yu, die den festen Kern des Ensembles bilden und hier einfach überwältigend getanzt haben. Was für ein Glück, dass die jungen Tänzerinnen und Tänzer, die erst nach dem Tod von Pina Bausch zur Compagnie gestossen sind, dies in keiner Sekunde (mehr) erkennen lassen: Çağdaş Ermiş für Eddie Martinez, Emma Barrowman für Anna Wehsarg, Jonathan Fredrickson für Aleš Čuček, Christopher Tandy für Rainer Behr und Stephanie Troyak für Thusnelda Mercy, waren mehr als nur Ersatz, sie haben das Stück weiterentwickelt und ihm mit ihrer Jugend eine neue Dynamik verliehen.

como el musguito_Pina Bausch © Marcelle Münkel 2

Ausrufezeichen

Es ist beinahe unmöglich, jemanden aus diesem Weltklasse-Ensemble hervorzuheben, sie alle haben überwältigend getanzt und die Betonung liegt wirklich auf getanzt, deshalb sollen hier nur zwei Ausrufezeichen gesetzt werden: die Freude, dass es Stephanie Troyak gelungen ist, plötzlich den Schalter umzulegen und aus ihr eine wundervolle Pina Bausch Tänzerin geworden ist! Gratulation! Das zweite Ausrufezeichen gilt Christopher Tandy, der sich in der Premiere leider verletzt hat: er hat absolut wundervoll glaubhaft und in jeder Sekunde authentisch die Rolle des unersetzlich geglaubten Rainer Behr eingenommen und neue physische und psychologische Facetten hinzugefügt. Was für ein Gewinn.

Pina Bausch Chile Stück PAU ARAN GIMENL ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Das Werk…

Das Werk zeichnet eine menschliche Topografie auf unsicherem und zerklüfteten Terrain, symbolisiert durch die, sich ständig verschiebenden und dadurch tiefe Spaltungen erzeugenden, weissen Bodenplatten im Bühnenbild von Peter Papst. Diese Verwerfungen mögen an die Atacama Wüste erinnern, den trockensten Ort der Erde, und seine tiefen Furchen, wenn es wieder einmal mehr als ein Jahrzehnt nicht geregnet hat. Aber sie könnten auch für eine gespaltene Gesellschaft stehen, die nach dem Gewaltregime der Militärdiktatur Pinochets sich noch immer in einer Übergangssituation zu einer Demokratie befindet. Oder an die Bilder von Eisbärenfamilien, die auf Grund des Klimawandels auf abgebrochenen riesigen Eisschollen im Meer treiben, wie Migranten, die ihre Heimat verloren haben, oder an die Compagnie selbst…

como el musguito_Pina Bausch © Marcelle Münkel 24

como el musguito_Pina Bausch – Clémentine Deluy© Marcelle Münkel

„…tanz, tanz, sonst sind wir verloren…“

In einer Szene, überspannt ein (Stahl)Seil die halbe Diagonale der Bühne in zwei Metern Höhe für einen Drahtseilakt, zu dem niemand den Mut haben wird.

Stattdessen hangelt sich einer der Tänzer (Christopher Tandy) mit Händen und Beinen klammernd über den Abgrund, während Tsai-Chin Yu mit all ihrer fulminanten Energie die Bühne zu überqueren versucht, um an dem Seil zu scheitern, das mit einem Gurt um ihre Hüfte geschlungen ist und das ihren Wirkungsradius auf Seillänge begrenzt. Zwei Lebenslinien vielleicht, die einander nicht zu treffen vermögen? War Sisyphos ein glücklicher Mensch?

Zwei Bekenntnisse von Pina sind allgegenwärtig, wenn man sich intensiv mit dem Tanz beschäftigt: es ist das Anliegen, mit Tanz eine Sprache für das Leben zu finden und der Satz des kleinen Mädchens, als Aufforderung an Pina: „…tanz, tanz, sonst sind wir verloren…“

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Sehr persönliches Stück

Beide stehen über diesem letzten Werk, das voll ist von Erinnerungen an vorausgegangene Stücke und ihre dazugehörigen Recherche-Reisen, Nefés und Agua werden in ihren Konstellationen fast wörtlich zitiert, aber mehr noch, es sind die Beziehungen und Gefühle der Choreografin und ihrer Tänzerinnen und Tänzer, es ist die Angst loszulassen, allein zu sein, die Angst vor Krankheit und Tod, auf beiden Seiten, Choreografin und Tänzer gleichermaßen.

Mehrfach sind in dem Stück  Szenen eingestreut, die ganz explizit hiervon handeln, wie etwa die Szene zwischen Azusa Seyama und Fernando Suels Mendoza, die dann in Ballett Exercises mit anschliessendem Kuss enden, oder der Zusammenbruch von Silvia Farias Heredia an mehreren Stellen, die dann immer wieder auf die Beine gestellt wird.

Pina Bausch Chile Stück ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Pina Bausch _ Damiano Ottavio Bigi, Christopher Tandy, Morena Nascimento ©TANZweb.org_Marcelle Münkel

Fahrplan in die Zukunft

Noch nie hat der Rezensent ein dermaßen ernstes, erschütterndes Solo von Ditta Miranda Jasjfi, dem ewigen Kind (in Pina) gesehen, wie in diesem letzten Stück, aber auch noch nie so viele fürsorgliche, liebevolle Soli, Duette und Gruppenchoreografien bei Pina Bausch in einem Stück, die fernab aller gängigen Geschlechterklischees angelegt sind, sieht man einmal von Morena Nascimentos „Wallkürenritt“ auf Damiano Bigi und Christopher Tandy ab…

Natürlich ist auch der Satz gegenwärtig: „… mich interessiert nicht wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt…“

In Pina’s letztem Stück scheint dies keine Gültigkeit mehr zu haben, und das ist gut so, denn hier gibt sich die Choreografin und ihre Tänzerinnen und Tänzer ganz dem universellen, nonverbalen, Verständnis des Lebens (und Sterbens) in Bewegung hin, und letztlich, … endlich, der Frage, was sie, Pina Bausch bewegt, angesichts des unaufschiebbar werdenden Abschieds.

Für die meisten Choreografen zählt immer das aktuelle Werk, als das gültige Werk. Wenn dem so ist, dann hat sie ein Werk geschaffen, das auch ein Bild der Zukunft des Tanztheater Wuppertal aufzeigt, wie sie es sich vielleicht wünschen würde: es ist ein zutiefst menschliches und fürsorgliches, aber auch ein virtuos tänzerisches.

Nur im Spielen sind wir ganz wir, sind wir kreativ und ungebunden. Künstler wie Dominique Mercy sind vollkommen alterslos, weil sie im Inneren stets Kind geblieben sind, sie sind wie Peter Pan. Wenn er atmet, dann ist dies wie ein Flügelschlag und der Zuschauer beginnt zu tanzen. Das ist die Aufgabe der Tanzkunst, die heute immer seltener zu finden ist, das WIR zu stiften und die Antworten auf die Fragen des Lebens, die nicht erst das Gehirn und seine Programmierung und Formatierung passieren müssen…

como el musguito_Pina Bausch © Marcelle Münkel 25

como el musguito_Pina Bausch – Ditta Miranda Jasjfi© Marcelle Münkel 25

Bei der Premiere vor zehn Jahren im Wuppertaler Opernhaus, so die Erinnerung, schwebte über der Erstaufführung etwas Schweres, Trauriges, Unsicheres, trotz der fließenden Schönheit und Leichtigkeit und dem, oft charmanter als sonst, aufblitzenden Humor, in den Soli, Duetten und Gruppenchoreografien, mit denen Pina Bausch noch ein letztes Mal ihre Protagonisten lange umarmen durfte.

Dass diese Wiederaufnahme, im zehnten Jahr seit dem Tod der großen Choreografin, etwas ganz besonderes sein würde, war gewiss, dass die Protagonisten daraus ein freudvolles und glückliches Erlebnis machen würden (sieht man von dem sehr bedauerlichen Unfall des bis dahin wundervoll tanzenden Christopher Tandy ab), ist ein besonderes Erlebnis und vielleicht auch die Wegbeschreibung Pina’s in die Zukunft des Tanztheater Wuppertal.

Emma Barrowman  ©TANZweb.org

como el musguito_Pina Bausch © Marcelle Münkel 12

como el musguito_Pina Bausch – Morena Nascimento und Dominique Mercy © Marcelle Münkel 12