Der Menschenwürfel

Richards Siegals „(Dis)Obiedience“ im Schauspiel Köln

Von Arnd Wesemann

Stellt Euch einen Würfel aus Menschen vor – vier Schultern nebeneinander. Dahinter, eine Armlänge zum Schulterblatt der vorderen Person entfernt, die nächste Reihe und dahinter noch eine. Zwölf Tänzer:innen des Ballet of Difference machen sich gleich. Dieser Menschenwürfel, wie er im Depot des Kölner Schauspiels steht, mag militärisch anmuten, auch wenn er auf dem Feld einer Sporthalle steht. Aber es stimmt, schon die alten römischen Legionäre bauten solche Würfel, um sich auf dem weiten Feld der Ehre in kleiner Mannstärke zu verteidigen. Meist umsonst. „Alea iacta est“ – der Würfel ist gefallen.

Der Mensch als Würfel war praktisch: vor allem in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Studierenden, mangels Wohnheimen, wohnten auf dem zerstörten Campus äußerst beengt – morgens zusammen aufstehen, auf engstem Raum, war unerträglich für ein Volk, das jedes Gedränge als einen Angriff auf die Würde empfindet. Auf die Kunst des spontanen Ausweichens folgte bald ein Sport: „Shuuan Koudou“ genannt. Das Wort heißt zu deutsch: Berührungslos und ohne Stehenbleiben geradlinig sich jede bietende Lücke nutzen. Wenn nun bis zu hundert Menschen in Japans gewaltigen Sporthallen zügig gleichzeitig aneinander vorbei gehen wie auf einem unsichtbaren Muster aus Kreuzgittern, auf Kommando jäh die Richtung ändern und trotzdem nicht zusammenstoßen, lockt das ein Millionenpublikum auf die gängigen Videoplattformen.

Richard Siegal hat das schon 2013 fasziniert, als er erste solcher Schritte am Bayrischen Staatsballett in sein Werk „Unitext“ einbaute. Inzwischen waren er und sein Kompaniewürfel tatsächlich in Japan, haben die Sportschule in Yokohama besucht und im Gegenzug die stampfendem Schritte aus Siegal’s „Made Two Walking / Made All Walking“ (2021) den japanischen Freizeitsportlern so vermitteln können, dass diese etwas Stolz ob ihrer kleinen Fortschritte verspürten. Die Begegnung mit Japan ist dankenswerterweise digital dokumentiert im frei zugänglichen Programmheft (https://www.schauspiel.koeln/spielplan/a-z/digitales-programmheft-ballet-of-disobedience).

WARUM HIER EINE ZWEITE REZENSION?

Erst vorgestern erschien die Nachtkritik von Klaus Keil auf unserer Seite und nun gleich eine Zweite, diesmal von Arnd Wesemann. Was für ein Luxus, mögen die Einen sagen, Kritik am Kritiker, die Anderen. Dabei ist es geradezu das Prinzip von TANZwebNRW seit den Beginnen vor 12 Jahren, dass zu jeder Premiere zwei Sichtweisen, zwei Meinungen erscheinen . Nur hier fällt es plötzlich auf, weil beides Texte sind, die das Erlebnis Tanz sichtbar machen wollen. Zwei mal Tanz im Text, wo sonst gewohnheitsmäßig bei uns die Kritik im bewegten Bild erscheint…  Schon mal darüber nachgedacht?

Foto-Thomas-Schermer

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Kommandos, genauer Abstand, präzises Timing – von Beginn an wissen die Zuschauenden, wohin der Hase läuft. Der Hase schlägt Haken und alle werden ihn gleichzeitig schlagen. Es herrscht Ordnung im Ballett. Wenn da nur nicht die Ikone des Tanztheater Wuppertals wäre, Nazareth Panadero. Ausgrechnet. So rein die Kunst des „Shuuan Koudou“ ist, des präzisen Gehens, und so sehr das Ballett selbst als Inbegriff präziser Körperbeherrschung gilt – mit Nazareth Panadero als die Röhre aus dem Tanztheater und ihrem „Bericht für eine Akademie“ in den Worten von Franz Kafka legt sich ein Schleier der Interpretation über die Choreografie, die ungerührt auf Kommandos, genauem Abstand und präzises Timing insistiert. Und immer so weiter macht, wie ein kleines Maschinchen auf zwölf Zylindern.

Es wahr, man denkt an Kafka, an Gleichschaltung, Gleichschritt, an Gleichheit, nicht an Differenz. Choreografisch macht ein Würfel zudem nicht viel her. Er geht als Einheit nach links, rechts, diagonal. Er teilt sich der Breite oder der Länge nach, egal. Er folgt einfach Kommandos oder Impulsen. Einmal schafft er es sogar, dass all die Bestandteile des Würfels jäh die Richtung ändern, tatsächlich Überkreuz gehen und nicht zusammenstoßen. Einmal schafft es auch Nazareth Panadero mitzumachen. Ganz hinten. Aber stets nur einmal. Es ist die Krux des Würfels, dass er nur Gleichheit zulässt, nur Disziplin erfordert, und nichts anfangen kann mit dem westlichen Verständnis von Gleichheit, die mit Uniform nichts zu tun hat: Es ist einzig die Gleichheit vor dem Gesetz, die wir meinen. Oder? Auf der Bühne sind natürlich lauter Verschiedene, die stur das Gleiche tun, und weil sie verschieden sind, choreografiert die Choreografie nun präzise auch die Verweigerung einzelner, einem Kommando mal nicht zu folgen, nicht „kehrt“ zu machen. Die choreografierte Verweigerung ist deshalb so hübsch anzusehen, weil Differenz, nicht Gleichheit, unser Gott ist.

©Thomas Schermer

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Darum nun Kafka. Oder auch deshalb Kafka, weil die Choreografie, in Reinform, als Kombinatorik aller Schritte mal aller Schritte keine zwanzig Minuten gedauert hätte (und sicher aberwitzig viele Monate Training kostet). Kafka macht den Unterschied, in dem er den berühmten Affen vor der Akademie der Gleichen auftreten lässt, einen Affen aus dem Varieté, dem es gelungen ist – als Ausländer, als der Eingeschränkte, Behinderte, als der Andere –, sich so anzupassen, wie wir das erwarten von denen, die zu uns kommen, nämlich zu der Bedingung, so zu werden wie wir. Kafka kannte das Wort noch nicht, sein Text ist es aber: ein Spottlied auf die Integration.

Differenz ist, wenn man sie zulässt. Darum geht es Richard Siegals Truppe, die auch in diesem Werk sich selbst zu finden versucht – diesmal in der kompletten Verleugnung ihrer individuellen Solistenkunst, selbst jener des sich enorm zurück nehmenden Komponisten Alva Noto, um das Solistische samt und sonders der mit dieser Verantwortung auch überforderten Nazareth Panadero aufzubürden. Noch im Ausbruch aus dem Würfel, dem System, dem sie schützenden Betriebssystem Theater, ordnet sich das Ensemble gleich wieder unter in den choreografischen Algorithmus des intakt funktionierenden Würfels. Was Bände spricht nicht nur über irgendwelche Integration, sondern Bände darüber, wie sehr dieses Ballett es versucht, sich als Kafkas Affe in das Schauspiel Köln zu integrieren.

©Thomas Schermer

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