©TANZweb – Szenenbild aus „Another Jan“

Vorwärts und nicht vergessen

von Klaus Keil

Mit JAN und dem inhaltlich daraus folgenden ANOTHER JAN ging es in der Brotfabrik weiter.  JAN, das ist der tschechische Student Jan Pallach, der sich aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings selbst verbrannte.
Choreograf Nir Ben Gal abstrahiert völlig vom realen Vorgang der Selbstverbrennung – und tut gut daran. Doch wie geht das zusammen – ein hochemotionales Thema abstrakt zu vertanzen? Für Nir Ben Gal steht Jan Pallach stellvertretend für eine ganze Gesellschaft und stellvertretend für eine kollektive Erfahrung. Deshalb tanzt kein als Jan erkennbarer Protagonist, sondern stehen drei Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne. Und keine pathetischen Fanfaren künden die Zukunft.
Mit Philip Glass Musik, die in endlosen Schleifen immer wieder zum Ausgangspunkt zurück zu führen scheint, illustriert Ben Gal akustisch den langen Weg in die Freiheit, seine Rückschläge und kleinen, schrittweisen Erfolge.

 


©TANZweb_Szenenbild „JAN“

Die Tänzerinnen Irene Bauer, Alena Pajasová und der Tänzer Martin Dvořák von der tschechischen ProART Company setzen anfangs ihre Bewegungen sparsam ein und steigern erst nach und nach auch durch zunehmende Geschwindigkeit die Intensität ihrer einfach wirkenden geraden Bewegungen, die oft kühl, distanziert und dem emotionalen Vorgang nicht angemessen wirken. Ihre Arme erscheinen wie Fühler, die sie tastend in unbekannte Räume strecken. Wenn sie zwischendurch immer wieder still verharren, drehen sie ihre Köpfe und man weiß, wohin und worauf sie blicken. Auch diese kleine Geste des Kopfes ist abstrakt, bleibt ohne Erklärung und hat zeitweise den stärksten inhaltlichen Bezug zu dieser traumatischen Erfahrung einer ganzen Nation. Emotionslos replizieren die drei Tänzer ihren wiederkehrenden Bewegungskanon, machen bald, zusammen gekauert oder am Boden liegend, längere Pausen. Viel zu lang erscheinen diese Pausen, die an den Nerven zerren und wie viele andere choreografische Momente dieses Tanzstückes immer näher zum emotionalen Gehalt des Stückes führen.

ANOTHER JAN ist kämpferischer, lehnt sich auf, leistet Widerstand.

Martin Dvořák von ProArt und Olaf Reinecke von bo komplex tanzen eine andere Form von Widerstand. Die Brüder Josef und Ctirad Mašlín verübten in den 1950er Jahren Sabotageakte gegen das stalinistische Regime in der Tschechei. Das Stück fragt nach der Wirkung dieser Form des Widerstands.

Die Lichtführung spielt in diesem Stück eine dramaturgisch wichtige Rolle. Leider sagt das Programm nicht, wer es designet und eingerichtet hat. Jedenfalls ist der Boden von einem Lichtraster bedeckt, dessen Felder sich je nach Verlauf der Choreografie verdunkeln, verengen, den Spielraum der Akteure erweitern oder begrenzen und inhaltlich keinen Spielraum lassen. Die tänzerischen Aktionen der beiden Protagonisten bleiben abstrakt und zielen doch sowohl auf die individuelle Protesthaltung des einzelnen wie auf die Notwendigkeit kollektiven Widerstands.
Auch hier hat die Musik mit ihren enervierenden kreischenden Streichern eine wichtige Funktion in der Gesamtinszenierung, die die Entwicklung von individueller Verzweiflung und Zerrissenheit zu den zwangsläufig folgenden Anschlägen nachzeichnet. Mit Blut an den Händen zeigen die Tänzer, dass diese Anschläge nicht ohne Todesopfer blieben. Wiederholte sanfte Klavierphrasen signalisieren Nachdenklichkeit, die Tänzer versinken in stille Momente auf den Lichtfeldern, machen mit ihren verkrümmten Körpern Verzweiflung spürbar: aus der Abstraktion gewonnene, hochemotionale Momente.

Wie sich Menschen begegnen und miteinander umgehen, ist das Thema von Choreograf Tarek Assam in vielen seiner Tanzstücke, die er mit der Tanzcompagnie Gießen realisiert. Stilistisch arbeitet Assam mit zeitgenössischem Tanz auf vorwiegend klassischer Basis. Seine Tänzer sind hervorragend und es ist ein ästhetischer Genuss, ihren Bewegungen zu folgen.

In ALTER EGO, einem Ausschnitt aus dem Ballett Siddhartha (2013), zeigen Endre Schumicki und Michael Bronczkowski, dass es eine Ebene in der eigenen Persönlichkeit gibt, mit der man sich schnellsten anfreunden sollte. Sie begeistern mit perfektem Tanz ebenso wie Yuki Kobayashi, Magdalena Stoyanova und Alberto Terribile im zweiten Beitrag der Tanzcompagnie Gießen, CAUSA FORUMALIS 3. Da stört es auch nicht, dass Assam selbst artistische Sprünge und Bewegungen verwendet, auch wenn manch komplizierte Bewegungsfolge den Tänzern sichtbar einiges abfordert. Als Zuschauer lässt man sich nur allzu schnell von virtuosen Tanzbewegungen einfangen, selbst wenn man darüber Thema und Inhalt aus den Augen verliert.