New Ocean Sea Cycle

Tanz-Installation von Richard Siegal und dem Ballet of Differenz (BOD)

Premiere der Uraufführung gestern, 03.10. im Depot 1, Spielstätte des Schauspiel Köln

Von KLAUS KEIL

New Ocean Sea Cycle, das ist die Inszenierung einer auf sechs Stunden angelegten Durational Performance. Genauer gesagt ist es eine Variation der Ursprungsfassung des Tanzstücks „New Ocean“, die seit 2019 im Repertoire des BOD steht (siehe Kritik tanzweb.org vom 28. September 2019 „New Ocean (the natch’l Blues“) und jetzt in eine neue Form gebracht wurde.

Wie andere Bereiche des Lebens, so war auch Choreograf Richard Siegal unter dem Diktat der COVID-19-Pandemie gezwungen, eine andere, eine neue Form der Inszenierung und Präsentation von Tanz zu finden, um das Publikum zu erreichen. Nicht eng an eng im Zuschauersessel und nicht weniger, sondern mehr Tanz scheint seine Lösung zu sein. Sitzmöglichkeit bot nur die erste Reihe. Alle anderen Reihen waren gesperrt. Und jeder zweite Sitz der ersten Reihe blieb ebenfalls gesperrt. Um dennoch möglichst vielen Zuschauern den Zugang zu dieser Tanzperformance zu ermöglichen, konnte der einen 45-Minuten-time slot buchen. Zeitversetzt machte das die Zuschauergruppen überschaubar. Dass allerdings die Dauer des Besuchs dem Publikum „nach Belieben“ (so im Programm nachzulesen) frei gestellt war, passte dann doch nicht so ganz zur Distanz wahrenden Pandemie-Vorsorge, denn statt zum Austausch einer Zuschauergruppe füllte sich der Raum von einem time-slot zum nächsten und nur wenige gingen.

NEW-OCEAN_Richard-Siegal©TANZweb.org_Klaus-Dilger

NEW-OCEAN_Richard-Siegal©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Tanz-Installationen und „Durational Performances“ zu entwickeln und die Zuschauer damit auf Wanderschaft zur Suche nach der für sie am interessantesten und befriedigendsten Perspektive der Inszenierung zu schicken, dabei auch eine gewisse Unruhe um die Inszenierung herum hin zu nehmen, ist nicht neu, weil zu vernachlässigen. Der eher Konservative unter den Tanz-Zuschauer – jedenfalls der Kölner… – hält sich dezent zurück, wechselt kaum die Position.

Die einzelnen time-slots werden zwar akustisch mit dem musikalischen Ohrwurm „In the beginning…“ markiert, aber niemand wird aufgefordert, den Raum zu verlassen, zumal bei den sich, so will es  scheinen, endlos aneinander reihenden Algorithmen die Choreografie, der Tanz und die inhaltliche Perspektive zu immer neuen Erkenntnissen und Einsichten führen kann.

War in der Ursprungsfassung „New Ocean“ sein inhaltliches Augenmerk ausschließlich auf den Klimawandel gerichtet, so wird jetzt die äußere Form der Präsentation der COVID-19-Abwehr selbst zum Thema. Dazu entzerrt Siegal seine Choreografie, streicht gleich den ganzen zweiten Akt und spielt das vom geschlossenen Tanzstück zur Durational Performance mutierte Stück en-suite, also wie in einer Endlosschleife ohne besonders hervorgehobenen Beginn oder bestimmbares Ende, denn selbst die Markierung mit „In the beginning…“ wird Teil der algorithmischen Sammlung. Nahtlos schließen sich auch die musikalischen Reminiszenzen von Alva Noto aus „New Ocean“ an. Seine elektronische Komposition, ist dominiert von einem Dauerton, oft abrupt endend oder leise und unmerklich anschwellend, so dass man ihrer oft erst gewahr wird, wenn sie schon nicht mehr hörbar ist. Die Lichtführung von Matthias Singer vervollständigt zum harmonischen Dreiklang aus Choreografie und Komposition. Mittelpunkt der Inszenierung sind natürlich in jedem Moment die Tänzerinnen und Tänzer, die dieses Marathon-Stück mit ihrer Präsenz und ihrem technisch unbegrenzt scheinenden Bewegungsrepertoire füllen. Richard Siegal hat mit seiner Truppe, dem BOD, eine neuartige, auf dem klassischen Repertoire beruhende zeitgemäße Tanzform entwickelt. Zu Barfuß oder Schläppchen gehört bei ihm ganz selbstverständlich auch der Spitzenschuh. Und wenn sich Duos, Trios oder Gruppen bilden, dann nicht in enger Formation, sondern verteilt im Raum, nur erkenntlich durch ihre identische Körperhaltung. Der Begriff Gruppe wird damit neu definiert, wird inhaltlich erweitert, verlässt die formalen Grenzen des Tanzes und bringt damit von unerwarteter Seite auch eine politische Dimension in den Tanz. Genau wie in weiteren Posen, bei denen Armstreckungen oder Schrittbeugen gegenläufige Haltungen erfordern, um die Körperstatik zu sichern, wird die äußere Form zu einer wichtigen politischen Aussage.

Wie in der Urfassung bilden auch in der Dauerperformance der Ring auf dem Boden der Bühne und die Lichtgestaltung eine untrennbare Einheit. Mal massiv rumpelnd und scheppernd, aber mehr noch unmerklich, schleichen sich die akustischen Momente in die Wahrnehmung ein. Doch nicht nur Ton und Dauerton, sondern auch Helligkeit und Dunkel, Farbe und Form des Ringes verändern sich unentwegt. Waren es in der Urfassung „New Ocean“ noch die Eisschollen, die unter dem Tanz einbrachen, so formiert die Lichtgestaltung in dieser Tanz-Installation erst langsam, dann immer stärker und ständig sich verändernd den Innenbereich des Ringes zu einem schwarzen Loch – eine unmissverständliche Warnung angesichts der klimatischen Veränderungen.

New Ocean Sea Cycle als Durational Performance ist eine Inszenierung, der man angesichts eines überragend perfekten und ausdrucksstarken Tanzes mehr Publikum gewünscht hätte. Doch die Covid-19-Maßnahmen machen auch vor dem Tanz nicht Halt. Das kunstvoll choreografierte Zusammenspiel aller beteiligten Künstler entwickelt mehr als die Urfassung einen akustischen, tänzerisch-choreografischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.