CocoonDance zeigt im Theater im Ballsaal in Bonn „Chora“

Unsichtbarer Spiegel 

Nachtkritik von Thomas Linden

HIER geht es zu den Videoimpressionen

 Im ersten Moment könnte man den Eindruck gewinnen, sich auf einer Vernissage zu befinden. Überall steht einem jemand aus der Schar der Besucher im Weg, wenn man gerade die ausgestellten „Objekte“ betrachten will. Diese „Objekte“ entpuppen sich bald als beweglich und die Aktion nimmt Fahrt auf, indem sie sich in eine Performance zu verwandeln beginnt. Cocoon Dance lädt an seiner Heimstatt im Bonner Theater im Ballsaal zu einer Vorstellung von „Chora“ ein, der aktuellen Produktion von Choreographin Rafaele Giovanola und Dramaturg Rainald Endrass. Diesmal steht das Publikum fast mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit, als das siebenköpfige Ensemble (Martina De Dominicis, Margaux Dorsaz, Álvaro Esteban, Clémentine Hervaux, Marin Lemic, Colas Lucot, Bojana Mitrovic und Evandro Pedroni). Es gibt keine Stühle im Raum und keine Bühne. Der Ballsaal präsentiert sich als große Scheune, in der sich das Publikum selbst zurechtfinden muss. Ein Publikum, dass vor allem aus jüngeren und älteren Bucherinnen und Besuchern besteht, die mittelalten Jahrgänge fehlen. Aber das ist ja fast überall im Kulturbetrieb der Fall.

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Vollkommen neu ist das Konzept, den theatralen Raum aufzulösen, nicht. Cocoon hat selbst immer wieder mit diesem Instrument gespielt und 2018 mit „Ghost Trio“ unerhört dramatisch die Begegnung zwischen Publikum und Ensemble inszeniert. In der freien Szene gewinnt der Tanz nicht selten einen installativen Charakter. Da gehört das Schlendern um die Akteure herum schon zur festen Gewohnheit. Oftmals wird jedoch so statisch inszeniert, dass man das Geschehen doch nur aus einer Position beobachten kann und es sinnlos wäre über die Bühne zu laufen. Hier ist es anders. Im Ballsaal bewegen sich die Protagonisten mal schnell und mal langsam durch den Raum. Das machen sie behände und dennoch muss man als Zuschauer seine Position im Raum verändern, um beobachten zu können. Visuelle Wahrnehmung verlangt nach einem Minimum an Distanz. Dramaturg Rainald Endrass versteht diese Situation als Metapher für die Gegenwart unserer Gesellschaft, in der es auch keine einfachen Lösungen mehr gibt und man stets auf Veränderungen reagieren muss.

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Dennoch vollzieht sich eine subtile Führung des Geschehens. Während sich das Ensemble zu einer Menschentraube verknäuelt und die Choreographie eher einer Spielanleitung für die Tanzenden gleicht als einer Partitur, in der jeder Schritt pointiert gesetzt wäre, rücken Licht und Musik in den Fokus der Aufmerksamkeit. Jan Wiesbrock, David Glassey und Boris Kahnert lenken Stimmung über Lichtakzente, die sie virtuos handhaben. Wirken die Tänzer eben noch entrückt wie Statuen im Gruppenbild mit den Besucherinnen und Besuchern, so schürt die Lichtdramaturgie im nächsten Augenblick die Neugierde auf das noch unbekannte Geschehen. Besonders intensiv lädt sich die Atmosphäre in jenen Momenten auf, in denen man in vollkommener Dunkelheit steht. Die akustischen Dramaturgen dieser Produktion sind Jörg Ritzenhoff und Franco Mento, deren Soundrepertoire vom plötzlichen lauten Impulsgeber bis zur akustischen Fahrt im Unterseeboot reicht. Das Gefühl der Menschen sitzt im Ohr und mit dem Sound verändert sich unsere Stimmungslage.

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Die Produktion von Cocoon entwickelt eine schöne Klaviatur der Emotion im Zusammenspiel von Tanz, Licht und Musik, die man lustvoll in einem von Konventionen befreiten Raum erleben kann. Man fragt sich allerdings unwillkürlich, wie die Fortsetzung dieser theatralen Entfesselung aussehen würde. Auch andere Kompagnien – wie etwa die United Cowboys aus den Niederlanden – haben mit diesem Ansatz schon experimentiert. In Bonn befinden sich Akteure und Betrachter auf Augenhöhe, aber was würde geschehen, wenn sie sich auch in die Augen schauen würden? Cocoon hat immer wieder mit dem Spiegelmotiv gearbeitet und in „Chora“ existiert eine Art unsichtbarer Spiegel, wenn Tanz und Publikum aufeinander reagieren. Aber wo müssten die nächsten Schranken überwunden werden, um mit der Sprache des Tanzes Erkenntnis über unsere Beschaffenheit als gesellschaftliche Wesen zu gewinnen?

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger