Mit Nichts überm Kopf

Das grandiose Solo „Janet on the roof“ von Pierre Pontvianne für Marthe Krummenacher beim 7. Bonner Tanzsolofestival

Nachtkritik von Melanie Suchy

Nur eine Wand. Nur eine Tänzerin, Licht und Sound. Mit einem unglaublich bewegenden Gastspiel aus dem französischen St. Etienne eröffnete am 23. Oktober das diesjährige Bonner Tanzsolofestival im Theater in der Brotfabrik. Die Compagnie PARC des Choreographen Pierre Pontvianne  hat, laut Tourliste seiner Webseite, noch nie in Deutschland gastiert. Wie schade. Die Tänzerin dieses Solos von November 2016, Marthe Krummenacher, die in den USA geboren und in Genf ausgebildet wurde und wieder dort lebt, mag man noch als Mitglied der 2004 gegründeten Forsythe Company in Frankfurt erinnern.

Ihr Solo beginnt mit Nichts auf der Bühne, nur Dunkelheit. Doch aus den Lautsprechern tönt Katastrophe, aufgeregte Rufe von Männern, „no“, „oh my god“, Schreie einer Frau inmitten eines Brausens, vielleicht Sturm oder Wassermassen. Ein Film, unsichtbar. Dazu ein tiefer Brummton, ein Knall, ein Fallen von etwas, klein und metallen, wahrscheinlich einer Patrone. Sie klimpert. Licht, das Licht wechselt wie geschaltet, die Tänzerin geht auf, steht, ruhige Klaviermusik, ihr Kopf sinkt, rollt nach hinten, die langen Haare fallen halb übers Gesicht, der Kopf hängt noch tiefer, das Gesicht wird nie wieder zu sehen sein. Die Arme strecken sich vor, die Bewegung wird nie wieder aufhören.

Anhaltend

Sie ist langsam. Im Kontrast zu den abrupten Lichtwechseln, zu dem immer wieder brutal eingeschalteten Disastersound mit kommandierenden Männerstimmen und der unartikulierten hohen Frauenstimme, zum Schuss, zum Klimpern, aber auch zu den harmonischen Klavierklängen, scheint die Tänzerin in eine andere Wirklichkeit abgetaucht zu sein oder wie unter Wasser zu schweben. Die langen bleichen Arme ragen, die Hände wandern, vor den Kopf, in die Luft, hintern Rücken, zu Boden, ballen sich zu Fäusten, strecken sich wieder, wie das ganze langsame, kopflose Wesen sich dann herunterbiegt, auf allen Vieren schreitet, schließlich liegt, die Beine in der Luft, den Rücken entblößt. Wieder steht –

Wenn sie gegen Ende mit größer und schneller werdenden Kreisen oder Schlaufen ihrer Arme und ihres ganzen Körpers selber zur Woge wird, wirkt die Tänzerin plötzlich wie eine Einheit. Als sei sie nun ganz, wo vorher, zäh fließend, nur Einzelteile waren, undefinierbare Formen, ziellose Verformungen, blinde Veränderungen.

Obwohl manche Momente – deshalb – an gewisse berühmte Solos erinnern, Xavier Le Roys „Self unfinished“ (1998) mit der Rückenansicht am Boden, Hintern in die Höh‘, oder Meg Stuarts „disfigure study“ von 1991, so scheint es bei „Janet on the roof“ viel weniger ums Vorzeigen oder clevere Form zu gehen. Man blickt auf etwas, das eigentlich nicht beschreibbar oder bebilderbar ist: die Schwelle zum Tod. Ein Werden außerhalb der Zeit. Oder ganz tief in ihr. Nach einem Lichtwechsel ist die Tänzerin plötzlich weg. Die lange, farblose flache Wand, die unmerklich nach vorne gerückt war, steht alleine da, leer, ein bisschen schräg wie ein Dach.

Transparenzhinweis: Die Autorin war beteiligt an einer Podiumsdiskussion beim Symposium „Solo Dance – Focusing the Self and Beyond“, das im Rahmen des Tanzsolofestivals durchgeführt wurde.

©cie parc

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