Das Tanztheater Wuppertal nimmt Pina Bauschs Stück „1980“ in beinahe identischer Besetzung wieder auf

Daher veröffentlichen wir unsere Nachtkritik von Nicole Strecker vom November 2017 erneut

HIER GEHT ES ZU UNSEREN VIDEOIMPRESSIONEN VON “1980”

Man mag Pina-Bausch-Stücke noch so oft ansehen – selbst eingefleischten Experten ihres Oeuvres fällt es schwer, das spezifische Charakteristikum einzelner Stücke innerhalb ihrer unterschiedlichen Schaffensphasen auszumachen. War das eine nun ein bisschen melancholischer, das andere witziger? Gibt es wirklich ‘besonders schöne’ Stücke, gar misslungene? Oder ist es immer eine Frage des Timings und der Besetzung, ob ein Bausch-Stück solche Kraft entwickelt, dass es als zeitlos scheinendes Kunstwerk überwältigt? Die einfachste und gebräuchigste Definition eines Bausch-Stückes ist stets die über sein Bühnenbild. Ist etwa die Wiederaufnahme von „Arien“ angekündigt, fragte man schon mal verwirrt nach: „Ist das das mit den Kakteen?“ – „Nein. Das mit dem Nilpferd.“ Es gibt „das Stück mit Mauer“ („Palermo Palermo“). „Das Stück im Erdloch“ („Viktor“). „Das Stück vor Gebirgswand“ („Rough Cut“). „Das Stück auf dem Rasen“ – das ist „1980“.

Im Licht der um ihn herum aufgestellten Scheinwerfer leuchtet er saftig-grün. Im Hintergrund: ein kleines Reh. Es wird den ganzen Abend über dort stehen und schauen. Es wird sehen, wie Nazareth Panadero ein Feuerzeug anschnippt und sich ein einsames „Happy Birthday to Me“ singt. Es ist in der Nähe, wenn Helena Pikon als verträumte Elfe durch den Sprühregen eines Rasensprengers tanzt und Ditta Miranda die Wiese mit ihren Lippen vermisst: „Dieses Stück Wiese ist 11 Küsse breit“. Es ist da und es wirkt wie ein Gefühlsverstärker: Drehen die Tänzer hysterisch durch, macht die Anwesenheit des scheuen Geschöpfs ihre viel zu laute Aufgekratzheit nur umso deutlicher. Häufiger aber tapsen die Tänzer an diesem Abend zart und behutsam über die Bühne – „1980“ also ein ‘stilles Stück’?

Im Mai 1980 war – wie üblich – seine Premiere. Im Januar war Pina Bauschs Lebensgefährte und Bühnenbildner Rolf Borzik an Leukämie gestorben. Die Verlockung ist groß, das Stück als „Trauer-Arbeit“ zu deuten, zumal eine der schönsten Szenen ein wundersamer Trennungs-Ritus ist. Dann versammelt sich das Ensemble wie ein stummer Chor vor der Koreanerin Nayoung Kim. Jeder tritt vor und sagt Worte des Abschieds. Höfliche, zickige, liebevolle, frostige – eine Abfolge widersprüchlicher Gefühle, aber letztlich ist dieses endlose ‘Adieu’ einfach nur eine große Grausamkeit.

„1980“ – das ist das Stück, mit dem die Zusammenarbeit mit Bühnenbildner Peter Pabst und Kostümbildnerin Marion Cito begann, die bis zum Tod von Pina Bausch den „Look“ des Tanztheaters mit ihren genialen Inspirationen prägen würden. „1980“ ist das Stück, in das Pina Bausch drei sanfte ältere Herren schmuggelte und sie mit beiläufiger Nonchalance ihre Kunststückchen vollführen ließ: Einen Barrenturner, einen Geiger und einen Zauberer, der in seinen verblüffenden Tricks immer wieder aus zerteilten Dingen ganze Dinge macht – die heilsame Kraft der Illusion. Und „1980“ ist das Stück, das neben den lustig-exaltierten Auftritten von Julie Shanahan vor allem von zwei Kompaniemitgliedern geprägt wurde: Mechthild Großmann und Lutz Förster. Heute haben ihre Rollen die Schauspielerin Silja Bächli und der Tänzer Scott Jennings übernommen. Der Engländer ist seit nunmehr fünf Jahren im Ensemble, und er dürfte wohl in der Zeit, in der Lutz Förster die Kompanie leitete, ein gutes „Coaching“ vom Meister selbst erfahren haben. Jedenfalls hat er sich dessen unvergessliche Nummern souverän zu eigen gemacht und erklärt nun auf seine britisch-lakonische Weise einem Stuhl seine Liebe. Er zeigt, dass er zu groß für die Betten dieser Welt ist und kommandiert in schneidigem Deutsch seine Kollegen herum. Wie schwer es allerdings ist, den Schatten eines Stars loszuwerden, wird deutlich im Spiel von Newcomerin Silja Bächli. Die gebürtige Schweizerin hat nun mal keine rauchige Großmann-Gossen-Stimme und die Inkarnation des spöttisch-verruchten Vollweibes (das man sich heute als Frauentypus ohnehin kaum noch vorstellen kann) ist sie auch nicht gerade. Aber dass sie ein toll-grobes Proleten-Luder sein kann, dass sie eine unverklemmte Körperlichkeit und das Potenzial zur herrischen Lautheit haben kann, war durchaus erkennbar. Wenn die anderen Tänzer in einer nächtlichen Szene immer wieder ihren Namen flüstern wie die Lockrufe von Toten in einem Horrorfilm, bekommt die Szene nun auch etwas Suggestives. Ein Wispern: sei Silja, kein Großmann-Spuk.

Dass Pina-Bausch-Stücke solche Umbesetzungen aushalten, dass sie zwar mit dem Ensemble gemacht wurden, aber auch ohne es weiterleben werden, haben zahllose Wiederaufnahmen längst bewiesen. Vom Ursprungs-Cast von „1980“ ist nur die Spanierin Nazareth Panadero geblieben und man wird ihren zärtlichen Sadismus nicht vergessen, mit dem sie einem männlichen Kollegen in mütterlicher Übergriffigkeit die Hosen runterzieht und einen anderen so leidenschaftlich mit ihren geschminkten Lippen abbusselt, dass sein Gesicht mit roten Quaddeln aussieht als hätte er die Krätze.

Insgesamt blieb nach der Premiere vor allem von der zweiten Hälfte das Gefühl, dass in diesem abgründigen „1980“ noch mehr Verletzlichkeit, noch mehr zarter Schmerz stecken könnte als das Mehrgenerationen-Ensemble aufspürte. Großartig aber, wie sie sich hinter einem auf der Bühne platzierten Röhrenfernseher für eine bizarre Castingshow aufstellen, folgsam ihre Beine anpreisen, sich Wasser ins Gesicht spritzen lassen, ihre Narben präsentieren und mit ihren Eigenheiten um Aufmerksamkeit buhlen. Und das 1980, als es allenfalls den Grand Prix Eurovision, aber eben noch kein „Next Top Model“, „DSDS“ und sonstige Trash-TV-Shows gab. Wir hätten ahnen können, mit welchen Demütigungen der Mensch freiwillig seine Selbstachtung beschädigen würde. Pina Bausch hat es uns schon vor 37 Jahren gezeigt.

1980 – Ein Stück von Pina Bausch