Schrit-tmacher-Festival: „Ce Que Le Jour Doit à la Nuit“ der französisch-algerischen Kompanie Hervé Koubi in der Aachener Fabrik Stahlbau Strang – „DIE SANFTE GEWALT DES STREETDANCE“
Eine Nachtkritik von Nicole Strecker
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So schwer sie auch aussehen, so sanft sind sie doch: 16 Tänzer, alles Männer, hat der französische Choreograf Hervé Koubi für sein 2010 entstandenes Stück „Ce Que Le Jour Doit à la Nuit“ in der Streetdance-Szene vor allem in Algerien und Marokko gecastet. Sie beweisen seitdem auf weltweiten Tourneen, wie betörend behutsam man die riskanten Stunts und kraftzehrenden Moves tanzen kann – allerdings auch, dass Körperbeherrschung nicht immer mit Körperausdruck einhergeht. Gelegentlich verrutscht der Ernst also zwar ins Pathos – aber aufregend virtuos ist diese „Streetdance-Meditation“ allemal.
©TANZwebAachenHeerlen.eu_Klaus Dilger
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Es beginnt mit einer persönlichen Bemerkung: Erst mit 25 Jahren, so liest Choreograf Hervé Koubi vor der Vorstellung auf deutsch dem Publikum von einem Zettelchen vor, habe er seine Wurzeln entdeckt. Nicht Frankreich, wie er immer geglaubt habe, sondern Nordafrika ist die Heimat seiner Großeltern. Nicht Französisch, sondern Arabisch die Sprache seiner Vorfahren. Es sei ein Schock für ihn gewesen. Deshalb die Reise nach Algerien. Deshalb dieses Stück. Eine Wurzelsuche. Und natürlich ein Lob auf das Verbindende zwischen den Menschen, nicht das Trennende, das derzeit wieder so gellend laut von mancher politischen Fraktion hervorgehoben wird. „Unsere Wurzeln sind älter als jede nationale Identität“, beendet Koubi seinen kleinen autobiografischen Prolog.
Als wär’s die Sonne, so langsam blendet dann das Licht auf. Die Tänzer liegen im ununterscheidbaren Körperhaufen auf der Bühne, einzelne Gliedmaßen schälen sich hervor, man hilft sich gegenseitig vom Boden hoch – eine harmonische Gemeinschaft. Elektronische Sounds erinnern an klösterliche Gongs für’s Morgengebet, dann der erste spektakuläre Sprung, ein Salto rückwärts. Man wird an diesem Abend noch viele atemberaubende Powermoves sehen: All die coolen Windmills, Boomerangs, Jackhammers, Kingflares des Streetdances – Headspins und Handstand-Moves in allen erdenklichen Variationen. Die 16 Tänzer steigern mit beeindruckend muskelbepackten nackten Oberkörpern den Schauwert. Dazu weite weiße Hosen plus Rock darüber, was sie aussehen lässt wie eine Mischung aus Capoeira-Kämpfer und Derwische. Und tatsächlich drehen sie sich irgendwann in die Sufi-Trance – nur manche von ihnen tun das eben auf dem Kopf.
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Vor einigen Jahren sorgte der Brasilianer Bruno Beltrão für Furore, weil er mit schweren Jungs – einige von ihnen wohl aus Favelas – nach Europa kam und die vermeintlich bösen B-Boys als zärtliche Slowmotion-Virtuosen präsentierte, die sich auf der Bühne auch schon mal küssten und die Geheimnisse der Streetdance-Moves verrieten, indem sie sie zerpflückten und verzögerten. Ähnlich forscht nun auch der Franzose und promovierte Pharmazeut Hervé Koubi nach den Ingredienzen im Krafttanz. Sehr clever verteilt er das Bewegungsmaterial auf die große Tänzergruppe. Er lässt auf verschiedenen Achsen im Raum synchron tanzen, immer wieder Individuen ausscheren. Allerdings ist für den Koubi-Trupp die Bühne deutlich zu klein in der im übrigen fantastischen Schrittmacher-Location, der Fabrikhalle Stahlbau Strang – bei den 16 Muskel-Kerlen bleibt von der überwältigenden Wucht manchmal nur unübersichtliches Gewusel.
Der Titel „Die Schuld des Tages an die Nacht“ verweist auf den auch hierzulande erschienenen Roman von Autor Yasmina Khadra, einem ehemaligen Stabsoffizier der algerischen Armee, der nach Frankreich emigriert ist und unter diesem weiblichen Pseudonym schon diverse Romane publiziert hat. „Die Schuld…“ wurde als historischer Schlüsselroman über die Geschichte Frankreichs und Algeriens ein Bestseller in Frankreich. Choreograf Hervé Koubi nun interessiert die Kolonialgeschichte offenbar vor allem als ästhetisches Amalgam von Orient und Okzident.
In ekstatisch sich steigernde Sufi-Musik mischen sich Zitate von Johann Sebastian Bach und noch nie gellte seine „Johannes-Passion so schrill in den Ohren. Flossen zuvor die Körper im honiggoldenen Licht zur idealen Utopiegemeinschaft ineinander, werden sie dann sperriger und widerständiger. Weißes Licht lässt sie wie göttlich erleuchtete Aposteln aus monumentalen Bibelverfilmungen aussehen. Märtyrerfiguren treten hervor, einzelne Tänzer werden in der Pose des Gekreuzigten hoch in die Luft geschleudert, andere tappen so ergriffen über die Bühne als durchlebten sie eine Epiphanie. Allein: Bei der Expressivität der famosen Streetdancer hakt es dann doch. So richtig glaubwürdig sind sie als spirituelle Jünger nicht, da mögen sie noch so butterweich jeden Kraftakt auspendeln, noch so grandios jeden Sprung eine Millisekunde in der Luft verzögern als flögen sie der Unendlichkeit entgegen. Die Inbrunst bläht sich doch zu Pose und Pathos auf und die Sprache des Streetdance scheint zu wenig differenziert für Hervé Koubis Tanzandacht zur kulturellen Verständigung. Trotzdem: Schon die Ambition, in den straßentanz- und kampfkunstgeschulten Machokörpern die sinnlichen Mystiker aufzuspüren, hat Charme. Und wo die Einkehr des Herzens fehlt, bleibt immer noch die Ekstase des Headspins.
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