© Joris-Jan Bos

Der Mythos lebt!
Nachtkritik von KLAUS KEIL

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Der Mythos Ariadne lebt. Jedenfalls in Emanuele Soavis Tanztheater „ARIADNEamore“, das gestern seine Köln-Premiere in der Alten Feuerwache feierte. Es ist der krönende Abschluss eines dreiteiligen Mythenprojektes, dem sich der Choreograf in einer dreijährigen Tanzrecherche widmete. Nach Daedalus und Pan hat sich der Choreograf nun Ariadne, Tochter des kretischen Königs Minos, als dritte Gestalt für den letzten Teils seines Mythenprojektes ausgesucht. Mit ihr schließt sich der Kreis, denn die Idee zum Faden der Ariadne, der aus dem Labyrinth führt, stammt von Daedalus. Doch diese Verbindung ist nicht Inhalt des Stückes. Vielmehr geht es um Lebensfreude, Weiblichkeit, Sexualität und überschwängliche Leidenschaft. Für all das steht Ariadne und dafür steht sie im Mittelpunkt dieses Tanzstückes.

Mythologisch steht Ariadne für eine verletzte Liebe, die sie in eine selbst auferlegte Einsamkeit treibt. Erst durch die leichtlebige Freundin Zerbinetta gewinnt sie wieder Lebenslust.

Wie immer nimmt Emanuele Soavi den mythologischen Plot nur als Matrix für eine eigenwillige Interpretation und vor allem für seine Bezüge zur Gegenwart. Die Bühne ist rundum vollständig mit 1000 Strumpfhosen behangen worden, mittendrin im Background ein DJ am Plattenteller. Das erinnert an eine der heutigen Event-Discos, wo sich oft tausende versammeln, um ihre unausgelebten Leidenschaften abzutanzen und Pseudo-Lebensfreude zu zelebrieren. Faktisch ist das jedoch Ausdruck einer realen gesellschaftlichen Vereinsamung. Gegen diese Schein-Kommunikation setzt Soavi kontrapunktisch gleich zu Beginn den leidenschaftlich getanzten Pas-de-deux eines Paares voll tänzerischer Schönheit und starkem gefühlsintensivem Ausdruck.

Wenn Soavi die Ariadne gleich fünffach auf die Bühne bringt und jede Tänzerin zu Ariadne wird, verweist auch das auf ein Massenphänomen der heutigen Pop-Kultur. Wenn ich gestern in der Kurzkritik schrieb, dass dieser Figur eine einprägsame Kontur fehlt (wie sie bei Daedalus und Pan zu erkennen war), dann scheint das in der Inszenierung so gewollt, denn ein bestimmendes Merkmal der brodelnden Disco-Masse ist eben deren Konturlosigkeit. Umso bedeutsamer wird die Funktion der zehn Stellwände, die Soavis Akteure auf der Bühne gleich zu Beginn errichtet haben. Für die fünf Tänzerinnen und einen Tänzer bilden sie Schlupfwinkel und Schutzschild zugleich. Immer wieder ziehen sie sich hinter diese Stellwände zurück, suchen Schutz vor den teils heftigen Aktionen auf der Bühne oder verstecken sich paarweise zu lüsternem (?) Tun in die Winkel dieser Wände. Diese Rückzugsmöglichkeiten fehlen den Tänzerinnen und Tänzern in den Massen-Discos. Sie sind den Blicken, dem Körperkontakt, den Übergriffen anderer ständig ausgesetzt. Die wahre, liebevolle Begegnung findet hier nicht statt. Daran verzweifelt auch Ariadne – und zieht sich zurück aus dem Leben.

Choreografisch deutet Soavi diesen Rückzug auf seine spezielle opulente Weise. Er inszeniert die Masse: Da fliegen die Arme, drehen die Körper, wälzen sich die Tänzerinnen, robben, kriechen, werfen sich zu Boden. Sie sind ständig in Bewegung als Gruppe oder einzeln. Das wirkt auf Dauer ermüdend, zumal bei gleichbleibendem tänzerischem Ausdruck. Umso stärker treten einige eindrucksvolle Bilder aus diesem fortdauernden Exzess der wogenden Masse hervor.

Mit dem Rücken zum Publikum sitzt eine Tänzerin mit einem phantasievollen Kostüm aus schwarzen Luftballons und pumpt weitere auf. Ariadne liegt verzweifelt hingeworfen zu ihren Füßen. Dann erkennt man, dass die Luftballons von Zerbinetta, denn um die handelt es sich augenscheinlich in dieser Schlüsselszene, der Ariadne wie Auftriebskörper unter die Kleidung geschoben werden. Zerbinetta gibt Ariadne Auftrieb, gibt ihr neue Lebens-Lust! Doch dann zersticht sie diese Auftriebskörper gleich wieder. Soavi holt uns damit wieder zurück in die Realität.

Wo in der Mythologie ein externer Vorgang zum auslösenden Ereignis wird, ist Soavi ganz modern und zeitgemäß mit einer Botschaft, die sicher nicht so offensichtlich von ihm angestrebt war, sondern sich latent in seiner Inszenierung versteckt: Du bist für dich selbst verantwortlich! Es ist wie bei Ariadnes Faden. Man muss ihn nur ergreifen, um aus dem persönlichen Labyrinth zu gelangen. In seiner Inszenierung erfolgt nun konsequenterweise auch die choreografische Differenzierung der fünf Tänzerinnen und des Tänzers Federico Casadei, der in einem eindrucksvollen Solo in die Rolle einer Frau schlüpft. Und auch die Tänzerinnen können nun deutlicher ihre Individualität und ihr tänzerisches Talent einbringen, als es in den Gruppenszenen möglich war. Wolfgang Voigt vom Label Kompakt begleitet die Inszenierung mit einer musikalischen Komposition, die mit Stille und extremer Lautstärke, mit Geräuschcollagen und barocken Arien-Fragmenten wesentliche Kontrapunkte setzt. „ARIADNEamore“ von Emanuele Soavi ist ein außergewöhnlich intensiv wirkendes Tanztheater gegen die Gespenster der Einsamkeit.

Es tanzten:  Nagmeh Alaei, Federico Casadei, Lisa Kirsch, Francesca Martignetti, Francesca Poglie, Chiara Toniutti, Nora Vladiguerov