Flugalarm – Der dritte Eröffnungsabend des Festivals schrit_tmacher in Eupen macht ganze Familien glücklich

Von Astrid Kaminski

 

Bei jeder Reise das große Bangen: Werden die Nebensitzer*innen zivilisiert auftreten, das heißt, auf Schnarchen, Bouletten auspacken verzichten, sich auch mit der Flüssigkeiten-Aufnahme und -Abgabe zurückhalten, gut aussehen, einen guten Musikgeschmack haben, womöglich sogar gut riechen? Natürlich wird der Wunschkatalog an die Mitreisenden niemals wahr, sie bleiben eine unkontrollierbare Spezies mit unvorhersagbarem Verhalten. Genau um diese Spezies geht es in „Jetlag“, dem Nouveau-Cirque-Stück der Brüsseler Compagnie Chaliwaté, die im belgischen Eupen das Tanz-Festival schrit_macher eröffnet. Zum ersten Mal ist das Festival in diesem Jahr trinational aufgestellt. Mit Eupen hat es sich nicht nur den dritten Partner sondern auch den Verwaltungssitz der Euregio Rhein-Maas mit ins Boot geholt.

In Eupen herrschen, was Zubettgehzeiten angeht, geradezu italienische Verhältnisse. Kinder dürfen auch mal mit in eine Abendvorstellung (ohne dass die Kita die Eltern am nächsten Tag beim Jugendamt anschwärzt?), und tatsächlich: „Jetlag“ ist Körper- und Gestentheater für die ganze Familie. Man verlernt es erstaunlicherweise nicht, über gute alte Bekannte des Slapstickeffekts, wegbrechende Stühle zum Beispiel, zu lachen. Und dass Verliebte komisch sind, das muss man Kindern gar nicht erst erklären. Bäh, Küssen! Da muss man doch was gegen tun, und genau das macht Loïc Faure, der das Greenhorn unter den Vielfliegern spielt, und, angekommen am Ziel, einem Paar seine glückliche Wiedervereinigung neidet. Ein Stunt zwischen die Küssenden, ein paar Huckepacksprünge, und, wenn alles nicht hilft, dann eben ein Dreier.

Das alles funktioniert ohne Sprache. Sandrine Heyraud, Sicaire Durieux sind ausgebildete Pantomimen, Loïc Faure ist Akrobat, aber sie arbeiten, wie im Nouveau-Cirque-Bereich üblich, genre-übergreifend – auch Tänzerisches spielt eine wichtige Rolle. Die Bewegungsabläufe finden ihre Pointen genauso durch Rhythmisierung und Phrasierung wie durch assoziative Anteile; Impuls, Intention, Timing sind genau durchchoreografiert. Die Durchmischung von Nouveaux-Cirque und Tanz hat in Deutschland gerade erst so richtig begonnen, das schrit_tmacher Festival, das sowieso eher bei bildhafter als bei abstrakter Ästhetik angesiedelt ist, zieht mit. Und die kurzweilige Kunst der Gruppe Chaliwaté mit ihrem liebevoll-skurrilen Humor zieht auch.

Dass der einsame Erstreisende in „Jetlag“ überhaupt am Zielort ankommt, ist natürlich das eigentliche Abenteuer. Loïc Faure gibt den typisch unbeholfenen Verlierertyp, Sandrine Heyraud, Sicaire Durieux die Jetsetter mit eingespulten Reisegewohnheiten. Während der Sicherheitshinweise werden die Fleecedecken ausgerollt, die Schlafbrillen aufgesetzt, die Nackenrolle gerichtet, die Ohrstöpsel eingesteckt. Als das Greenhorn die Notfall-Instruktionen, die er wie zur Klausurvorbereitung studiert hat, wieder in die Sitztasche zurücksteckt und um sich guckt, sieht er die ersten Extraterrestrier seines Lebens. Wie er nun, aus welchem Grund auch immer, versucht, auf den freien Fensterplatz neben ihnen zu kommen, das gerät zum Höhepunkt des Abends, bei dem Dauer-Zwerchfell-Einsatz angesagt ist. Bei jeder der akrobatischen Posen über die Schlafenden hinweg wird mit der Vorstellung gespielt, wie es wäre, wenn sie gerade jetzt aufwachten.

Auch ansonsten wird mit gutem Proportionsgefühl noch vieles, was an Peinlichkeiten, Umständlichkeiten, Unannehmlichkeiten, aber auch an heimlichen Ängsten und Träumen beim Reisen so vorkommt, in ein nachgebautes Flugzeugkabinen-Fragment gepresst: die Schnarcher, die Kippschlafer, die Sitzlehnen-Besetzer, die Hampelmänner, die Einsamen, die Zweisamen, die Furchtsamen. Das Trio, das bekennender Jacques-Tati-Fan ist, hat es gut im Griff, zwischen realistischen und ins Surreale gehenden Szenen zu switchen und kleine, offensichtliche Beobachtungen sich ins Absurde auswachsen zu lassen: Aus Sitzlehnenkonfikten wird ein großer Krabbelsalat, die Stewardess übersetzt die Pilotenansage in Ganzkörper-Gebärdensprache und plötzlich sind wir auch schon im Cockpit auf einem Gewitterflug, in dem die Funksignale per Pfeffermühle geregelt werden. Und wenn der Motor a.k.a. Ventilator ausfällt, sorgt der Humor eben für Auftrieb.