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Oh Täler weit, oh Höhen
von Melany Suchy

Das dritte Bonner Festival Into The Fields wurde eröffnet mit „Shifting Geography“, einem interkontinental erarbeiteten Tanzstück

weitere Aufführungen 14. und 15.03. jeweils um 19 Uhr.

Welch ein schöner Titel für ein Tanzstück: Shifting Geography. Da verschiebt sich was. Und es sind gleich mehrere Geographien, die sich bewegen, übereinander, zwischen einander. Wenn das nur ginge: Geographie im Plural. Sind es also mehrere Ansichten mehrerer Welten oder Landschaften? In der Choreographie ist das tatsächlich zu sehen: die Beweglichkeit eines Raumes, von Räumen und den mal vereinzelten, mal klumpenden oder schwärmenden Körperfigurationen in ihnen.

Shifting choreographies: Das Stück ist ein Gemeinschaftswerk von Rafaele Giovanola und Alvin Erasga Tolentino, bringt entsprechend Tänzer von CocoonDance aus Bonn und von der Company Erasga aus Vancouver zusammen, insgesamt sechs, barfuß, in Jeans und T-Shirt, und verzichtet auf jede Extra-Bühnenausstattung. Nur das Licht verschiebt anfangs die Räume. Mal sitzt das Publikum im Dunkeln, wie gewohnt, und schaut auf die leere, graue Bühne, kühl beleuchtet. Dann wird sie verschluckt von Dunkelheit, und die Zuschauer werden angestrahlt. Hin und her. So erscheint das Theater im Ballsaal deutlich als zweigeteilter Raum, dessen innere Grenze zwischen Zuschauer und Bühne aber verschiebbar wird. Konsequenterweise übertreten auch die Tänzer manchmal diese Linie. Aber, keine Sorge, das Publikum darf sitzen bleiben und muss nicht auch noch selber shiften. Nur sehr wach sein:

Um die Muster in den Tänzen sozusagen als Geographien zu erkennen, also Flaches und Erhobenes,  Beharrendes und Fließendes, Schroffes und locker Gestreutes. Lange drückt sich eine Tänzerin an den Boden, als sei sie schwer wie ein Fels, später gibt sie diesen Druck an eine Wand, lehnt sich, fasst sie nur noch mit den Händen und geht dann so, in dieser Haltung, davon. Verbinden und Lösen: Die Hände in der Luft sind plötzlich sinnlos, zeigen nur noch einen Zusammenhang zu etwas Gewesenem. Die Landschaften unseres alltäglichen Gedankenlebens spiegeln sich darin.

Das Licht schüttet im ersten Teil immer wieder einzelne helle Flecken auf den Bühnenboden, die gefüllt sind mit einem Tänzer, jeder in seiner eigenen Welt. Ungefüllt wirken sie dann umso leerer. Im Grunde geht es in „Shifting Geography“ um Aufbauen und Verschwindenlassen. Es schichtet auf und an und lässt Formen erodieren. Wiederholungen sind auch Aufbauten, sie falten Zeitabläufe aufeinander. Variationen fächern sie auf. Man kann in dem Stück viel entdecken, wie auf einer Landkarte, die man allerdings selbst beschriften muss. Darf. Nix für Anfänger, aber für genaue Hingucker eine lohnende Expedition.

Zu dem seltsamen Raumgefühl im Theater im Ballsaal, mit dessen Trennlinien das Stück auf dezente Weise spielt, kommt nämlich die Soundscape des spanische Musiker Pablo Palacio hinzu. Er lässt es oft lärmen, es rumpelt, scheppert, es hämmert und sägt metallisch-elektronisch, er gießt einen Chorklang dazu, tiefes Fauchen und Röcheln, unverständliches Plappern, hohes Klickern, Summen und Sirren. Eine unermüdliche unergründliche Gespensterparade. Eine nicht sichtbare Unter- oder Nebenwelt.

Etwas Unwirkliches haben aber auch die Figuren auf der Bühne, die sich vom gefühligen, dramatischen Menschsein weitgehend befreit haben. In einer Ecke summen sie in kleinen Bögen umeinander herum, treiben auseinander, wehen zurück zur Nische; an einer mittleren Stelle hocken sie mal mit witternd erhobenen Köpfen, die gespreizten Finger auf den Boden gestellt. Das Bild zerfliegt und baut sich später plötzlich wieder zusammen. Manchmal verfolgt jemand einen anderen, läuft hinterher, schiebt sich rückwärts an ihn heran oder kopiert die nach vorn gestreckten Arme. So entstehen Doppelwesen, die dem Anpasser für kurze Momente Halt gibt, ihn von der Mühe der vereinzelten Existenz befreit. Doch unerbittlich shiftet alles, was Nähe findet, auch wieder auseinander. Nichts bleibt, wie es ist; die Wiederholungen sind wie Erinnerungsgeröll: instabil.

Diese sechs Figuren haben keine Geschichten, nur Geschehnisse. Der Humor, der in diesen An- und Umordnungen auch liegt, kommt nicht recht durch. Aber es wird auch keine Tragik behauptet. Etwas Unheimliches, Diffuses bleibt.

Eine Koproduktion von CocoonDance und Co.ERASGA in Kooperation mit dem theaterimballsaal Bonn und The Cultch Vancouver. Gefördert durch: Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, Kunststiftung NRW, Bundesstadt Bonn und The city of Vancouver, British Columbia Arts Council, Canada Council for the Arts, Vancouver Foundation, Vancouver East Cultural Centre.

Choreografie: Rafaële Giovanola, Alvin Erasga Tolentino // Tanz: Fa-Hsuan Chen, Alison Denham, Volkhard Samuel Guist, Martin Inthamoussú, Billy Marchenski, Victoria Perez // Musik: Pablo Palacio // Lichtgestaltung: Jonathan Tsang