©Dorothea Tuch

Der Tänzerkörper als Massengrab

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Die Kompanie Dance On gastiert mit „Water Between Three Hands“ von Rabih Mroué im Kölner Depot 2

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Von Nicole Strecker
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So kann es nicht weitergehen. Tänzerin Brit Rodemund hat ihre Knochen gezählt und dabei festgestellt: einer fehlt. Sie hat nochmal und nochmal gezählt, insgesamt sieben Mal, bei jeder Zählung wurde es ein Knochen weniger. Mindestens sieben Knochen fehlen in ihrem Körper, weiß sie jetzt. Weitere Zählungen riskiert sie lieber nicht.
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Eine Horrorvision. Alle sechs Tänzer der Kompanie „Dance On“ werden an diesem Abend von solchen Augenblicken erzählen, in denen der eigene Körper zum Ort des Grauens wird. Fantastische Texte über die Kuriositäten und Mysterien, die die Tänzer gemeinsam mit ihrem ‚Choreografen‘, dem libanesischen Künstler Rabih Mroué verfasst haben. Wer auch immer bei „Dance On“ die Idee hatte, den documenta-Künstler und Theaterregisseur Mroué mit einer Choreografie zu beauftragen – er darf sich auf die Schulter klopfen. Nicht nur, weil der Tanzdebütant  ein wunderbares Stück kreiert hat, sondern auch, weil solch‘ glücklich ausgehende Risiko-Produktionen dem Image der noch jungen ‚Alten-Kompanie‘ „Dance On“ immens helfen. Hier, bei den Tänzern 40+ findet also jetzt die Innovation statt. Hier werden – offenbar – die Choreografen-Newcomer der nächsten Zeit entdeckt.
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Seit einem Jahr gibt es nun das sechsköpfige Ensemble, das von der Berliner Tanzlobbyistin Madeline Ritter und Riccarda Herre – einer Ex-Tänzerin von Krawallo-Choreograf Johann Kresnik – ins Leben gerufen wurde. Es ist ein auf zwei Jahre angelegtes, mit Bundesmitteln finanziertes Pilotprojekt, das das Thema „Alter“ in der senioren-diskriminierendsten Sparte erforschen soll, mit Kunst selbst, aber auch mit die geldgebenden Politiker beruhigender akademischer Evaluation.
 
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Das jetzt im Rahmen der Tanzgastspiele im Kölner Depot 2 gezeigte „Water Between Three Hands“ von Rabih Mroué ist die zweite Produktion der Kompanie und nach dem Solo-Abend „7 Dialogues“ im Grunde die erste, mit der sich die sechs exzellenten Tänzer als Ensemble präsentieren. Entstanden ist kein geschlossenes Stück, eher eine Szenensammlung, in der Mroué zwar folgsam alles thematisiert, was eben zu einer solcherart gelabelten Demographie-Kompanie gehört (Alter, Vergänglichkeit, Tod, Erinnerung, Vergessen, Abschied…). Aber: niemals plump. Ein metaphernreiches, komplex gedachtes, originelles und – Überraschung: sehr tänzerisches Stück.
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Wasser, das unaufhaltsam durch die Hände rinnt – wie die Zeit. Bleiben die Erinnerungen. In einer Sequenz widmen die Tänzer ihre Bewegungen dem Körperteil eines Menschen, der ihnen nahestand. Sie tanzen also „den rechten Arm von Hildegard“, das „rechte Bein von Vincent“, einen fremden Torso, ein Nervensystem. Zu sechst stellen sie sich so eng zusammen, als wollten aus den Körperfragmenten einen einzigen Leib bauen. Dann folgt exquisit-schnelles Gliedergeschlenker – ziemlich verwirrend, wenn ein Tänzer sich mit seinem ganzen Körper so bewegt, als wäre er nur einzelnes Bein. In einer Ecke der Bühne fügt Schlagzeuger Philipp Danzeisen das ‚Herz‘ hinzu und sorgt den ganzen Abend für einen erhöhten Pulsschlag mit allerlei Marsch-, Jazz- und Tusch-Variationen.
 
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Man tanzt gemeinsam Forsythe-Style – immerhin sind drei der sechs „Dance-On“-ler langjährige Frankfurt-Ballett-Tänzer. Später meint man auch den raumgliedernden Minimalismus einer Lucinda Childs zu erkennen, die skurril-staksigen Abstraktionen eines Merce Cunningham und Brit Rodemund betritt gar als ironisches Martha-Graham-Imitat die Bühne. Der reife Tänzer als ‚Sparten-Archiv‘, in seinem Körper hat sich das Bewegungswissen von Jahrzehnten angesammelt – die These ist mittlerweile fast schon ein Allgemeinplatz, doch Rabih Mroué gelingt es, sie mit seinen irritierenden Geschichten in neue, größere Kontexte zu stellen: Kompaniechef Christopher Roman erzählt, wie er tief unter die schützende Schicht der Haut gegraben habe und dort auf ein Massengrab gestoßen sei mit den Gebeinen von Babies, Frauen, Alten – und man denkt nicht nur an den von fremden Choreografen-Geistern behausten Tänzerleib, sondern auch an die Gewaltgeschichte der Menschheit, die Spuren in jedem hinterlässt. Tänzerin Ami Shulman sieht eines Morgens nur noch ihren Hinterkopf, nicht mehr ihr Gesicht im Spiegel und weiß, dass jeder Tanzschritt von nun ein ‚rückwärts‘ bedeutet. Und Jone San Martin hat 27 Jahre lang nach jeder Vorstellung ihren Tanz-Schweiß in Flaschen gesammelt. Als sie nach Jahren von dem Sediment schnupft, durchlebt sie in einer einzigen Sekunde alle Bewegungen, Choreografien, Bühnenmomente ihres Lebens – eine Ekstase und eine Überdosis Tanz mit Todesfolge.
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Auch Tänzerleben sind Tragikomödien. Rabih Mroué hat sich den Middle-Agern von ‚Dance On‘ glücklicherweise nicht nur mit gebührendem Respekt, sondern auch galligem Humor genähert. Sie dürfen ihre noch immer muskelmodellierten Körper zeigen, auch ein Herrenspagat geht mit fast 50 Jahren noch, ebenso schulterhohe Beinhebungen, superweiche Ballettfüsse und flamenco-trappelndes Sexappeal in den Hüften. Aber sie amüsieren sich mit lässigem Understatement und ironischer Exzentrik auch über Körperkult und Eitelkeiten der Sparte.
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Nur einmal wird das Element des Titels aufgegriffen, dann betreten drei Tänzer  halbnackt und seltsam schief-verrenkt die Bühne: Sie balancieren Wasser (‚heiligen Tänzerschweiß‘?) in ihren Körpermulden: im zarten Graben der Wirbelsäule, in der Vertiefung zwischen den Schlüsselbeinen, in einer Augenhöhle. Als sie es auskippen, markiert eine Kollegin mit Klebeband die Pfützchen wie einen Tatort – ‚hier liegt ein Performance-Opfer‘. Das Nass verdampft. Eine Spur wird bleiben.
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Folgetermin am 28.01.2017 um 20 Uhr im Depot 2, Köln
 
©Dorothea Tuch