NACHDEM „MOVING BORDERS“ DAS KÖLNER PUBLIKUM IN DER TANZFAKTUR VOR WENIGEN MONATEN BEGEISTERN KONNTEN:

NOSOTROS ERÖFFNETT

SCHRIT_TMACHER FESTIVAL

Nachtkritik von Luke Aaron Forbes

HIER GEHT ES ZUM VIDEOTRAILER DER AUFFÜHRUNG

Mit einem sehr physischen Tanztheaterstück NOSOTROS, das der Choreograf und Performer Jaciel Neri für seine Compagnie MOVING BORDERS geschaffen hat, eröffnete  das diesjährige Schrit_tmacher-Festival in Aachen. Es ist getanztes Leitbildes der ‚Festival-Organisatoren, denn  Schritt_macher ist international und transkulturell und auf administrativer Ebene grenzüberschreitend, findet doch parallel zu Aachen ein Teil des Programms in der niederländischen Stadt Heerlen statt.

Das Stück beginnt in Dunkelheit und es ist nur das Pfeifen der Performer zu hören, die an unterschiedlichen Standorten des Bühnenraums in der höhlenartigen Industriefläche der Fabrik Stahlbau Strang zu vermuten sind. Das Publikum erfährt so eine klangsinnliche Erfahrung der Architektur und erlebt auf diese Weise, wie sich die Grenzen des eigentlichen Performance-Raums, der deutlich eingegrenzt is von schwarzen Vorhängen, zu verschieben beginnen. Dieses Ausloten und die Erweiterung der wahrgenommenen räumlichen Grenzen, überträgt sich alsbald auf die sozialen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Grenzen und etabliert sich als wiederkehrendes Thema aus diesen ersten Augenblicken, noch bevor die Lichter auf der Bühne angehen.

Jeder der vier Tänzer stürmt einzeln auf die Bühne und erhält somit die Gelegenheit, seine eigene Bühnenpersönlichkeit in seinem individuellen Tempo zu formen. Einen Freiraum, den jeder auf seine Art zu nutzen weiss.
Sie improvisieren und würzen die jeweiligen Tanzsequenzen mit ihren eindrucksvollsten akrobatischen Stunts oder einem Augenzwinkern und einem Winken ins  Publikum. Es gibt keine musikalische Begleitung für diese kurzen Episoden und stattdessen hören wir die Darsteller atmen, Geräusche machend, pfeifen und reden.

Nicht nur, dass die Tänzer sich von Zeit zu Zeit selbst vorstellen, sie unterscheiden sich voneinander durch einzigartige Bewegungsdynamik und Wortschatz. Diese choreografische Entscheidung scheint auf den ersten Blick dem Programmheft zu widersprechen, das ausführt, die Arbeit zeige „typisch“ Mexikanische Männer und deren Gehabe. Betrachtet man allerdings den Titel des Stückes und dies gilt auch für den Namen der Compagnie, scheint Neri eine Vorliebe zu haben für eine gewisse Doppeldeutigkeit. Nosotros, spanisch für „wir“ oder „uns“, je nachdem, wie es verwendet wird, kann vom Publikum als eine humanistische Aussage verstanden werden: wir sind alle mehr oder weniger gleich, oder auch als eine Abgrenzung zwischen den Darstellern und dem Publikum – wir sind nicht wie Du. Hier herrscht Ambivalenz und Neri dreht diese in eine produktive künstlerische Kraft.

Besonders reizvoll ist der Hauch von Spontaneität und Frische, den die vier Performer in gespielter Unkenntnis von Theaterkonventionen ausstrahlen, obwohl das Stück bereits im Jahr 2011 entstanden ist. Die Tänzer reden mit ihren Zuschauern, binden das Publikum ein, stellen Fragen – “ wie geht es dir? „- oder lassen sich in ausschweifenden Kommentaren über die Temperatur im Zuschauerraum und die Qualität der schweren Stoffvorhänge aus oder sie schütteln die Hände der Zuschauer in der ersten Reihe, sobald sie Applaus empfangen haben, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Dies macht sie nicht nur sympathisch, sondern beseitigt auch gleichzeitig jede Kluft zwischen Performance und Realität.

Obwohl dies ein allzu konzeptioneller Ansatz für einen kurzen Tanzabend sein mag, bleibt NOSOTROS dennoch eine unterhaltsame Show und die choreographischen Elemente der Arbeit springen mühelos vom Bühnentanz zu sozialen Tanzformen, vom Fußball zum Freistilringen , ein Mix von Quellen, der typisch ist für den sprunghaften Geschmack der YouTube-Generation und der sich nicht um weiche Übergänge kümmert. Ganz in diesem Sinne wechseln die Konstellationen der Performer zwischen Soli, Duetten, Trios oder synchronen Gruppenabläufen.

Auch wenn das Publikum ausreichend amüsiert gewesen ist, um die Abwesenheit von Musik nicht zu bemerken, so ist es doch als beginne der Abend aufs Neue, wenn die Tänzer um Erlaubnis bitten, die Spielfläche verlassen zu dürfen und Salsa-Musik erklingt.

Die vier Performer erscheinen kurz darauf wieder und tragen  Wrestling-Masken und beginnen ein nicht allzu ernst gemeintes Spiel um mexikanische Stereotypen. Machogehabe wird kontrastiert mit männlicher Femininität,  brutale Freistilkämpfe neben glatte Salsa-Schwünge gesetzt. Diese Szene fällt ein wenig aus dem Rahmen der bisherigen Vorstellung, und man fragt sich, ob deren Hereinnahme eine künstlerische Entscheidung oder ein Zugeständnis an die Zuschauer gewesen ist.

In der letzten Szene des Abends werfen die Tänzer ihre Wrestling-Masken, ihre Schuhe und Socken weg und, zusammen mit diesen, auch ihre sozialen Masken. Sie führen komplexe Partnerübungen aus, mit Hebungen, Stand- und Balancebildern, die man eher mit modernen Zirkusvorstellungen in Verbindung bringen würde. Im Gegensatz zu dem, was diese und vorausgegangene Szenen an Assoziationen hervorrufen könnten, ist es nicht Neri’s Ziel, das Publikum mit zusätzlichen Demonstrationen von Kraft, Koordination und Beweglichkeit zu beeindrucken. Keiner der Männer nimmt in diesen Tanzsequenzen eine besondere Rolle, wie die des Hebenden oder des Posierenden ein. Die Männer sind sich gleich, tauschend fliessend die Rollen und sind dabei bestens aufeinander abgestimmt, ihre „Geschlechtslosigkeit“ ermöglicht hierbei einen meditativen Abschluss eines ansonsten vor Allem ausgelassenen Tanzabends.

Nächste Aufführungen: 18. und 19. und 20. Februar, jeweils 20:30 Uhr Fabrik Stahlbau Strang in Aachen Rothe Erde – Philipstrasse 2.