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Alice im Dschungel der Möglichkeiten
Das Flow-Dance-Festival bietet einen faszinierenden Blick in den Entstehungsprozess der Produktion „Revisiting Wonderland“
Von Thomas Linden

Die Überraschung wird im Wunderland der kleinen Alice zur programmatischen Notwendigkeit. Ein Stoff, wie gemacht für die Bühne. Stellt sich das absurd-frivole Erwachsenenmärchen des pädophilen Lewis Carroll doch als einer der großen, programmatischen Texte der Moderne dar. Freilich braucht man ein gehöriges Stück Mut für den Trip ins Land der Scherze, Hinterhältigkeiten und der Auflösung jeglicher Logik. Auf diesem Terrain sind schon viele Inszenierungen in den Fußageln der Sprachspiele und dem giftigen Unkraut der Absurdität zu Fall gekommen. „Alice in Wonderland“, das ist vielleicht eher eine Methode der poetisch-gezielten Zerstörung von Sinn und Zusammenhang, als dass es sich tatsächlich um eine Geschichte handelte. Deshalb bemerkt die Tänzerin Laure Dupont auch gleich zu Beginn der Lecture Performance von „Revisiting Wonderland“ ganz folgerichtig, „dass man den Text so oft lesen kann, wie man will, man vergisst ihn dann doch wieder“.

Jedem fällt es schwer, sich an das Nichts zu erinnern, warum sollte es in der Produktion von Cocoon Dance – die zu großen Teilen auf der Ile de La Réunion produziert wurde – anders sein? Dort lebt Simon Rouby zur Zeit, um seine Arbeit an einem aufwändigen Animationsfilm zu beenden, der im nächsten Jahr in Cannes Premiere feiern soll. Für Rafaele Giovanola und Rainald Endraß – das verantwortliche Choreographen-Duo von Cocoon Dance – schuf Rouby Lichtbilder, die Linie um Linie entstehen. So kann man beobachten, wie ein Zimmer mit einem offenen Kamin gezeichnet wird und Laure Dupont tänzerisch in den Entstehungsprozess einzudringen versucht. Eine zweite Projektionsfläche mit Filmbildern gibt der Bühnenlandschaft eine schöne Laboratmosphäre.
Die Tänzerin bewegt sich zwischen den Bildern. Vereinzelt setzt sie Akzente mit einem Hauch von Erotik, wenn sie ihre Beine effektvoll ins Spiel bringt und daran erinnert, dass die kaum verschleierten erotischen Fantasien von Carroll zu den Triebfedern der Alice-Geschichte zählen. Aber oftmals bleiben ihre Bewegungen auch ein Taumeln und Suchen, dass im Ungefähren zwischen den dominierenden Bildern verweht. Gegen die digitalen Zeichen, haben menschliche Körper zumeist schlechte Karten auf der Bühne. So ist es auch hier, zumal die Tänzerin eher Assoziationen zu folgen scheint, als dass sie sich einem erkennbaren Konzept verpflichtet zeigte. Vermutlich bleiben ihre Aktionen deshalb seltsam kraftlos. Tatsächlich scheint die Produktion im Überangebot von medialen Grenzüberschreitungen, die das Sujet und der Wechsel zwischen Zeichen, Filmbildern und Körperarbeit offeriert, den Kompass einer dramaturgischen Ausrichtung noch nicht gefunden zu haben.

Hoffnung für das Gelingen der Produktion verströmt hingegen der Ansatz von Jörg Ritzenhoff, der schon in diesen Werkproben mit seiner Musik viel Atmosphäre für Alices Rückreise ins Wunderland bietet. Ritzenhoff erzeugt Klänge mit zahlreichen Instrumenten, die sich in unterschiedlicher Entfernung zum Aufnahmegerät befinden. So entsteht der Eindruck eines akustischen Raums, mit dem sich – wie er sagt – „die nötige Authentizität für die Geschichte erzeugen lässt“. Damit könnte auch ein vielversprechender Weg für die Tanz- und Bildkomposition eingeschlagen werden, um aus der Beliebigkeit der Experimentalsituation herauszufinden. Das Gerüst für diese Produktion muss noch erstellt werden, aber diese Aufagbe scheint lösbar in dem bevorstehenden Jahr bis zur Premiere.
Es ist ein Gewinn, dass das Flow-Dance-Festival die Möglichkeit zu einem solchen Blick in die Choreographen-Werkstatt ermöglicht. Diese Nähe und Offenheit mit der die Künstler mutig ihre Arbeitsergebnisse präsentieren, gibt dem Publikum eine Vorstellung von den Problemen, mit denen sie zu kämpfen haben und erzeugt bei den Besuchern der Performance Verständnis für die sehr speziellen Ausdrucksmöglichkeiten, die dem Tanz zur Verfügung stehen.