CHRONISCHE ENDORPHIN ENTLEERUNG

„Paradisus?“ Ein Performanceprojekt von Emanuele Soavi Incompany und Analogtheater in der Kölner TanzFaktur

Von Nicole Strecker

HIER GEHT ES ZUM VIDEOTRAILER

Vielleicht sollte alles nur ein Gag sein. Vielleicht wollte sich der Philosoph Platon einfach einen Jux erlauben und eine völlig abstruse Idee zur Macht der Erotik entwickeln, als er in seinem berühmten Dialog „Symposium“ seiner Figur, dem vom Schluckauf befallenen Redner Aristophanes, die Idee vom erotisch dauerbeglückten Kugelmenschen in den Mund legte? Ein rollendes Sexspielzeug. Hicks.

Platon müsste staunen, welche Erregungswellen sein kleines schräges Gedankenexperiment bis heute schlägt – speziell auf Tanzbühnen, auf denen naheliegenderweise die Körperthemen „Liebe, Sex, Schwulsein“ rauf-und-runterreflektiert werden, wie auch das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum.

Auch auf der Bühne von Emanuele Soavi und Daniel Schüßler hockt nun wieder so ein Kugelmenschlein, aber es ist glücklicherweise keines, das allzu sehr vom philosophischen Tiefsinn beschwert ist. Mit babyseligem Lächeln kauern Soavi und sein Tänzerkollege Federico Casadei auf erdverdrecktem Boden. Zwei Körper, miteinander verbunden durch eine banal-heutige Schlumpf-Klamotte: einem kükengelben Kapuzenpullover. Arme, Beine räkeln elegant wie Schlangen darunter hervor, es gibt kein Hinten oder Vorn.

Und dann kommt kein zürnender Spaltergott Zeuss darnieder gefahren, sondern ein relaxter Schauspieler Daniel Schüßler, der der Kreatur einen Apfel reicht. Die Verführerfrucht genügt für Zoff in der Einheit, ihre Teilung muss sein.
Womit man flugs vom philosophischen Gastmahl im biblischen Garten Eden gelandet ist. Heiliger Mythen-Mashup! So geht das den ganzen Abend. Das Männertrio Soavi, Schüßler und Casadei fuhrwerken als Theatergötter auf ihrer Bühne herum. Jeder von ihnen kreiert seine eigene Vision vom Paradies, die Kollegen spielen ein bisschen mit, ehe man sich dank konkurrierender Vorstellungen gegenseitig aus dem Arkadien vertreibt.

Soavi imaginiert den Urknall mit seinem typisch feingliedrig-schnellen Tanzstil, der immer schön-perfekte Form und regelloses Chaos zugleich ist. Pure Tanzfreude und selbstironische Distanz. Er holt sich Casadei und gemeinsam kreiseln, sausen sie als bewegungsbegeistertes Körpergeschoss unberechenbar über die Bühne, knallen mit dem Torso gegeneinander. Zwei Glückssterne auf Kollisionskurs, freudetrunkener Götterfunken.
Später spürt Tänzer Federico Casadei als nasser Fisch dem Urquell von Bewegung nach: wilde Wellenbewegungen als Anfang allen Tanzes. Und Schauspieler Daniel Schüßler sinniert derweil über eine Endorphin-Maschine, an die man sich anschließen lassen könnte und die für permanente gute Laune sorgen könnte. Ein chronisches High-Sein. Aber wer wollte das, wenn es kein Abschalten mehr gibt? Nichts ist ohne sein Gegenteil gut – das ist nun mal die Dialektik des Lebens.

So entwickelt das Trio viele kraftvolle Einzelszenen und gerade das angekündigt „Surreal-Komödiantische“ an diesem Abend funktioniert. Auch das Theater selbst als Elysium mit vielen Fragezeichen wird inszeniert, wenn das Trio sich eine einzelne Tür ohne Wände auf die Bühne holt und mit einer durchgeknallten Tür-auf-Tür-zu-Choreografie die Kinderkomik des Klippklapp-Boulevard parodiert. Gute-Laune-Terror im Volkstheaterparadies.
Nur: Worauf die drei Heilewelt-Sucher jenseits einer amüsanten Mythen-Dekonstruktion und Plünderung von Paradies-Fantasien hinaus wollen, bleibt nebulös. Erstaunlich auch, dass trotz der Mitwirkung des sonst so sozialkritisch engagierten Analogtheaters kaum mal die Wirklichkeit und ein Gegenwartsbezug in die lustig-sündige Fiktion einsickert. „Paradies“ ergo „Vertreibung“ ergo „Flüchtlinge“? Nichts davon zu sehen. Offenbar galt es, jeden zeitgeistigen Opportunismus zu vermeiden. Statt dessen lieber das Theater als Chance zum Eskapismus vor der überpräsenten Realität. Damit verpufft der launige Luftschloß-Zauber allerdings auch so schnell wie die weißen Wölkchen aus der Nebelmaschine, mit denen sich „Ariel“ Soavi in einer Szene sein Tänzer-Walhalla schafft.

Gegen Ende schließt sich der Kreis. Die Apokalypse dräut und Daniel Schüßler präsentiert sich nackt, das Geschlecht zwischen die Beine geklemmt, so dass es nicht zu sehen ist, zu einem der Wesendonck-Lieder von Richard Wagner. Er bewegt die Lippen zum Playback einer weiblichen Gesangsstimme. Eine bizarr-androgyne Diva, die ihren Liebesschmerz schmachtend ausstellt – auch das eine Variante eines zweigeschlechtlichen „Kugelmenschen“.

Von Platon zu Wagner zu Schüßler-Soavi. Das Paradies als Utopie von ich-entgrenzender Liebe und metaphysischer Einheit. Kein Witz. Eine Menschheitssehnsucht.