ERNEUT AM 13., 14., 15. UND 16. APRIL JEWEILS 20 UHR IM THEATER IM BALLSAAL

SOEBEN ZU ENDE GEGANGEN:

NACHTKRITIK „MOMENTUM“

Einmal niemand werden!

von Melanie Suchy

HIER GEHT ES ZUM VIDEO-TRAILER DER PREMIERE

Das neue Stück von Cocoon Dance füllt das komplett unmöblierte Theater im Ballsaal in Bonn mit Fleisch. Aber „Momentum“ macht das Männertrio nicht nackt, sondern lässt es uralt und ewig neu wirken
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Auf den Anfang kommt es an. Gelingt diese Einheit, dieses Beisammensein, dieses Imtaktsein – oder nicht? Gelingt es, das Einfache oder Primitive oder Ursprüngliche glaubhaft werden zu lassen, oder wird es gewollte Show?
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„Momentum“, der Titel, deklariert das Ungetrennte. Es stehen auch keine Stühle für die Zuschauer bereit. Sondern die verteilen sich im leeren Bühnenraum des Theaters im Ballsaal mit seinem schwarzen Holzboden instinktiv am Rand, die Rücken zur Mauer gekehrt. Die drei Tänzer liegen reglos bäuchlings am Boden. Würde man ihre Umrisse mit Kreide zeichnen, wären es Tote. Von oben Heruntergefallene. Ihre Köpfe sind mit Tüchern verbunden, die Gesichter unkenntlich gemacht.
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Die erhellende Aufmerksamkeit des Lichts wandert im Raum und schaltet sich manchmal komplett an und aus. Ein träges Blinzeln. Der Sound aber geht durch, ununterbrochen pumpt ein einfacher dumpfer Beat, der nach einer Weile eine Diastole hinzubekommt und einem erregten Herzschlag noch ähnlicher wird, einen Fluss erzeugend. Diese Köpfe am Boden, denkt man nun, horchen an einem Schwangerenbauch: an der Erde, dem Untergrund. Es ist aber dann ihr eigenes Inneres, das die Männer bewegt.

Den Eindruck von Höhle, von Innenraum, bestätigen die von Marc Brodeur niedrig gehängten lampenartigen Scheinwerfer und der tiefe Elektrobeat, den DJ Franco Mento bumpern lässt und der mit der Zeit mehrere Schichten auflegt, dicker wird und mal wieder flacher und dessen Impuls Beine und Köpfe einiger Zuschauer mitwippen lassen. Wie im Club. Techno.
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Nach einer Weile zucken die Rücken der Liegenden. Etwas will sich aus dem Rumpf drücken, die Körper wirken angespannt, wie Vulkane vor dem Ausbruch. Doch sie explodieren nicht, sondern durchlaufen eine Art Evolution als Kreaturen. Robben, krabbeln, flitschen, zittern, wellen und wölben sich. Ihr innerer Beat sitzt im Bauch, im Becken, langsam, schnell, ziellos, anfallartig, im eigenen Takt, selten in dem der Musik. Sie treiben durch den Raum, nah am Boden. Etwas scheint sie auf geheime Weise zu verbinden. Man ahnt, dass die drei eine Art Entwicklung absolvieren werden von der Nullposition hin zum Zweibeinertum. Doch das wird zum Glück auf unerwartete Weise nie ganz erreicht, jedenfalls nicht bis zum zivilisationssteifen oder -schlabbrigen Ende. Schon lange vorher erkennt man, diese Wesen brauchen den aufrechten Gang gar nicht.
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Die können und wollen so kopf- und sprachlos bleiben: wunderbare, grausliche Regression. Das totale Im-Moment-Sein, erst umspült vom Beat, dann ihm ausgeliefert, vereint.

Die Choreographie von Rafaele Giovanola, kombiniert mit den dramaturgischen Ideen von Rainald Endraß, gibt diesem „Rohen“ (Endraß) im Laufe der gut 45 Minuten die eine und andere Form, die auch das Männliche dieses Kraft- und Daueraktes noch mehr betont.

Tiger im Tank

Die Tänzer mutieren zu geschmeidigen Vierbeinern, durchqueren den Raum, rollen, vibrieren im Sitzen und auf den Knien. Manchmal schrauben sie sich in die Höhe, erreichen den Stand, aber nichts hält sie dort, sie gleiten sofort wieder herab. Auf und ab und doch wieder auf. Sie fassen  aneinander an, Hand an Hand, Rücken an Rücken, lehnen, schieben, lüpfen den anderen. Immer im Takt wippend und immer noch anonym. Àlvaro Esteban, Werner Nigg und Andi Xhuma schwitzen. Die Arme um Nacken und Schultern gelegt, die Füße überkreuz schwingend, rechts, links, erinnern sie an Fußballertorjubel oder Volkstanz. Überschwang. Schon mit dem direkten Kontakt der drei hat sich etwas verändert, das Höhlengeheimnis ist verschwunden, sie sind mehr Mensch. Konsequenterweise rupfen sie sich später auch die Tücher von den Gesichtern, schauen auffordernd in die Runde, die Knie bouncen, die Köpfe nicken discomäßig zur Musikmechanik. Ja. Ja. Ja. Das Nicken hört nicht auf.
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Es zuckt am Ende dieser langen Nabelschnur, mit der die drei Herren noch mit dem Anfang, jener Einheit, verbunden sind. Darin erkennt man, und das ist das Großartige und sehr Zeitgemäße an „Momentum“, beides: die Lust, in dem Moment, in dem blinden Beat, in dem Tanz, in der Menge rückhaltlos aufzugehen; und das Schreckliche, die Sucht, das Aufgeputschte, das Pushen, die Affirmation. Nicht denken. Weiter, weiter, weiter!