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NACHTKRITIK

SPIEGEL DER LIEBE

COCOONDANCE ZEIGT IN SEINER NEUEN PRODUKTION „WHAT ABOUT ORFEO?“ WIE MAN MIT EINEM KLUGEN KONZEPT DAS BEGEHREN SICHTBAR MACHT

von
Thomas Linden

HIER GEHT ES ZUM VIDEOTRAILER DER DEUTSCHLANDPREMIERE

„Findest du meine Füße schön?“ Sie fragt, er antwortet mit „ja“. Auch die anderen Körperteile fragt sie ab und er bestätigt sie. Wie ein Sprachspiegel fungiert er, während sie verzückt die Glieder reckt. Um die unendlichen Varianten der Reflexion dreht sich die neue Produktion „What about Orfeo“, die Cocoondance in Bonns Theater im Ballsaal präsentiert. Spiegel an den Decken, in den Händen der Besucher und in den Aktionen der sechs Tänzer (Dennis Alamanos, Fa-Hsuan Chen, Tanja Marin Fridjonsdattir, Werner Nigg, Susanne Schneider, Dymitry Szypura).

Wir bekommen uns selbst nicht zu Gesicht, nur im Spiegel können wir uns sehen. Aber auch dann erscheint nur einen Teil von uns, das Selbstbild bleibt immer fragmentiert. Deshalb ist die Perspektive aus der wir schauen von solch entscheidender Bedeutung, im Leben und in der Kunst, sie gibt uns mit dem Standpunkt auch ein Stück Identität, das uns den Blick – und damit die erkennende Wahrnehmung der Welt – erst ermöglicht. Aber wenn wir uns selbst auch nicht sehen können, so könne  wir doch zum Spiegel für die anderen werden, und sie zum Spiegel für uns. Liebende wissen das, wie Cocoondance gleich im ersten Bild zeigt.

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Wenden uns die Tänzer den Rücken zu, können wir aufgrund der Spiegel gleichwohl ihr Gesicht sehen. Kulinarisch bieten Männer und Frauen ihre Körper unserem Blick dar und dabei begegnen wir ihrem Blick. Körper und Geist gehören zusammen, eine seit Lukrez formulierte Wahrheit, die das Abendland erst in unserer Zeit mit den Erkenntnissen der Neurologie wieder zu realiseren beginnt. In dieser klugen Produktion wird sie auf vielfältige Weise formuliert und vor allem erlebt. Betrachte ich den schönen Körper der Tänzerin, sieht sie im Spiegel, dass ich ihr auf die Beine schaue, und ich sehe, dass sie mich gesehen hat. Treffender kann man kaum die verdeckte Existenz des Begehrens ans Licht holen, wie es Cocoondance hier auf geniale Weise gelingt. Das ist Philosophie, die mit dem Körper geschrieben wird, von den Akteuren ebenso, wie von den Betrachtern und bald sind die Rollen ja auch nicht mehr zu unterscheiden. Müßig wäre es, darüber entscheiden zu wollen, wer hier Exhibitionist und wer Voyeur ist, wir sind immer beides, wären wir es nicht, würde sich die Welt nicht mehr drehen.

Mit großartigen Volten ist diese Produktion bestückt. Zu ihnen gehört, dass nicht alleine ein Blickkontakt zwischen den Akteuren und den Besuchern entsteht, sondern durch den Umstand, dass jeder im Publikum einen Spiegel zur Hand hat, beobachtet man sich auch gegenseitig. Man sieht, wohin die Augen des Nachbarn schweifen. Nun könnte man sagen: Wie furchtbar, da steht man ja unter vollkommener Kontrolle! So ist es aber nicht, ein freundlicher, lustvoller Ton durchzieht die Produktion, der nicht zum Belauern anstiftet, sondern dazu auffordert, die Neugierde und das Begehren anzunehmen, das als Motiv unsere Augen lenkt. Wo ich eben noch vom Blick des Tänzers ertappt wurde, der beobachtet, wie ich seiner Kollegin zuschaue, beobachte ich selbst, wie sich das Paar, dass sich zu meinen Füßen auf der Erde rollt, in die Augen schaut.

Bei all dem wird getanzt, aber hier handelt es sich um keine Choreographie, deren Figuren, Rhythmen oder Schrittfolgen den Ehrgeiz taufrischer Originalität erkennen ließen. Das wäre auch fehl am Platz. Gefordert sind Begegnungen und Soli, die das Spiel der Körper mit einer fröhlich-sinnlichen Attitüde im Fluss halten, die zur Begegnung animieren, dem Kontakt von Person zu Person. Denn dort, wo Blicke aufeinander treffen, entsteht Intimität die uns berührt, auch über die Vorstellung dieses Abends hinaus.

Die Inszenierung als Spiel mit der theatralen Geste und die unmittelbare Begegnung, die zum Erlebnis wird im Stil einer Performance, bilden die Darstellungsformen, die hier beständig miteinander im Austausch liegen. Rafaele Giovanola und Christian Duarte in der Regie und Reinald Endraß in der Konzeption stoßen mit dieser Produktion zu den tiefen Fragen der Tanzkunst vor, indem sie zeigen, dass der Tanz die Möglichkeit zu einer Begegnung mit dem Körper bietet, die während sie noch stattfindet in unserem Blick reflektiert wird. Denken und Erleben verschmelzen auf eine Weise, wie sie uns keine andere Kunst ermöglicht. So mag der göttlich singende Orpheus auch zurückschauen und damit sein Unglück besiegeln, hier wird der Blick in den Spiegel zum Beginn eines Dialogs zwischen Nähe und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit und letztlich zu einem verführerischen Spiel, bei dem wir selbst lustvoll in den Focus rücken.

Mit leichter Hand gelingt den Bonnern ein Geniestreich, der in der nationalen Szene seines gleichen sucht.

Nächste Termine: 1., 2., 8., 9. Mai jeweils 20 Uhr.